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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 3. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1837.

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eben einen Apfel abgepickt, als der Jüngling einen Pfeil nach ihm schoß. Der Vogel entflog, aber der Pfeil hatte sein Gefieder getroffen, und eine seiner goldenen Federn fiel herab. Der Jüngling hob sie auf, brachte sie am andern Morgen dem König, und erzählte ihm was er in der Nacht gesehen hatte. Der König versammelte seinen Rath, und jedermann erklärte eine Feder wie diese sey mehr werth als das gesammte Königreich. 'Jst die Feder so kostbar,' erklärte der König, 'so hilft mir auch die eine nichts, sondern ich will und muß den ganzen Vogel haben.'

Der älteste Sohn machte sich auf den Weg, verließ sich auf seine Klugheit, und meinte den goldenen Vogel schon zu finden. Wie er eine Strecke gegangen war, sah er an dem Rande eines Waldes einen Fuchs sitzen, legte seine Flinte an, und zielte auf ihn. Der Fuchs rief 'schieß mich nicht, ich will dir dafür einen guten Rath geben. Du bist auf dem Weg nach dem goldenen Vogel, und wirst heut Abend in ein Dorf kommen, wo zwei Wirthshäuser einander gegenüber stehen: eins ist hell erleuchtet, und es geht darin lustig her, da kehr aber nicht ein, sondern geh ins andere, wenn es dich auch schlecht ansieht.' 'Wie kann mir wohl ein albernes Thier einen vernünftigen Rath ertheilen!' dachte der Königssohn, und drückte los, aber er fehlte den Fuchs, der den Schwanz streckte, und schnell in den Wald lief. Er setzte seinen Weg fort, und kam Abends in das Dorf wo die beiden Wirthshäuser standen, in dem einen ward gesungen und gesprungen, das andere hatte ein armseliges, betrübtes Ansehen. 'Jch wäre wohl ein Narr,' dachte er, 'wenn ich in das lumpige

eben einen Apfel abgepickt, als der Juͤngling einen Pfeil nach ihm schoß. Der Vogel entflog, aber der Pfeil hatte sein Gefieder getroffen, und eine seiner goldenen Federn fiel herab. Der Juͤngling hob sie auf, brachte sie am andern Morgen dem Koͤnig, und erzaͤhlte ihm was er in der Nacht gesehen hatte. Der Koͤnig versammelte seinen Rath, und jedermann erklaͤrte eine Feder wie diese sey mehr werth als das gesammte Koͤnigreich. ‘Jst die Feder so kostbar,’ erklaͤrte der Koͤnig, ‘so hilft mir auch die eine nichts, sondern ich will und muß den ganzen Vogel haben.’

Der aͤlteste Sohn machte sich auf den Weg, verließ sich auf seine Klugheit, und meinte den goldenen Vogel schon zu finden. Wie er eine Strecke gegangen war, sah er an dem Rande eines Waldes einen Fuchs sitzen, legte seine Flinte an, und zielte auf ihn. Der Fuchs rief ‘schieß mich nicht, ich will dir dafuͤr einen guten Rath geben. Du bist auf dem Weg nach dem goldenen Vogel, und wirst heut Abend in ein Dorf kommen, wo zwei Wirthshaͤuser einander gegenuͤber stehen: eins ist hell erleuchtet, und es geht darin lustig her, da kehr aber nicht ein, sondern geh ins andere, wenn es dich auch schlecht ansieht.’ ‘Wie kann mir wohl ein albernes Thier einen vernuͤnftigen Rath ertheilen!’ dachte der Koͤnigssohn, und druͤckte los, aber er fehlte den Fuchs, der den Schwanz streckte, und schnell in den Wald lief. Er setzte seinen Weg fort, und kam Abends in das Dorf wo die beiden Wirthshaͤuser standen, in dem einen ward gesungen und gesprungen, das andere hatte ein armseliges, betruͤbtes Ansehen. ‘Jch waͤre wohl ein Narr,’ dachte er, ‘wenn ich in das lumpige

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 3. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1837, S. 344. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1837/375>, abgerufen am 29.03.2024.