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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 2. Berlin, 1815.

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knorz in ihrem Munde aber ist ein Schlafkunz
oder Schlafapfel. Die Sage von der güldnen
Feder, die der Vogel fallen läßt, und wes-
halb der König in alle Welt aussendet, ist
keine andere, als die vom König Mark im
Tristan, dem der Vogel das goldne Haar der
Königstochter bringt, nach welcher er nun
eine Sehnsucht empfindet. Daß Loki am Rie-
sen-Adler hängen bleibt, verstehen wir besser
durch das Märchen von der Goldgans, an
der Jungfrauen und Männer festhangen, die
sie berühren; in dem bösen Goldschmied, dem
redenden Vogel und dem Herz-Essen, wer
erkennt nicht Sigurds leibhafte Fabel? Von
ihm und seiner Jugend theilt vorliegender
Band andere riesenmäßige, zum Theil das,
was die Lieder noch wissen, überragende Sa-
gen mit, welche namentlich bei der schwieri-
gen Deutung des zu theilenden Horts will-
komene Hilfe leisten. Nichts ist bewährender
und zugleich sicherer, als was aus zweien
Quellen wieder zusammenfließt, die früh von
einander getrennt, in eignem Bette gegangen
sind; in diesen Volks-Märchen liegt lauter
urdeutscher Mythus, den man für verloren

knorz in ihrem Munde aber iſt ein Schlafkunz
oder Schlafapfel. Die Sage von der guͤldnen
Feder, die der Vogel fallen laͤßt, und wes-
halb der Koͤnig in alle Welt ausſendet, iſt
keine andere, als die vom Koͤnig Mark im
Triſtan, dem der Vogel das goldne Haar der
Koͤnigstochter bringt, nach welcher er nun
eine Sehnſucht empfindet. Daß Loki am Rie-
ſen-Adler haͤngen bleibt, verſtehen wir beſſer
durch das Maͤrchen von der Goldgans, an
der Jungfrauen und Maͤnner feſthangen, die
ſie beruͤhren; in dem boͤſen Goldſchmied, dem
redenden Vogel und dem Herz-Eſſen, wer
erkennt nicht Sigurds leibhafte Fabel? Von
ihm und ſeiner Jugend theilt vorliegender
Band andere rieſenmaͤßige, zum Theil das,
was die Lieder noch wiſſen, uͤberragende Sa-
gen mit, welche namentlich bei der ſchwieri-
gen Deutung des zu theilenden Horts will-
komene Hilfe leiſten. Nichts iſt bewaͤhrender
und zugleich ſicherer, als was aus zweien
Quellen wieder zuſammenfließt, die fruͤh von
einander getrennt, in eignem Bette gegangen
ſind; in dieſen Volks-Maͤrchen liegt lauter
urdeutſcher Mythus, den man fuͤr verloren

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[VII/0012] knorz in ihrem Munde aber iſt ein Schlafkunz oder Schlafapfel. Die Sage von der guͤldnen Feder, die der Vogel fallen laͤßt, und wes- halb der Koͤnig in alle Welt ausſendet, iſt keine andere, als die vom Koͤnig Mark im Triſtan, dem der Vogel das goldne Haar der Koͤnigstochter bringt, nach welcher er nun eine Sehnſucht empfindet. Daß Loki am Rie- ſen-Adler haͤngen bleibt, verſtehen wir beſſer durch das Maͤrchen von der Goldgans, an der Jungfrauen und Maͤnner feſthangen, die ſie beruͤhren; in dem boͤſen Goldſchmied, dem redenden Vogel und dem Herz-Eſſen, wer erkennt nicht Sigurds leibhafte Fabel? Von ihm und ſeiner Jugend theilt vorliegender Band andere rieſenmaͤßige, zum Theil das, was die Lieder noch wiſſen, uͤberragende Sa- gen mit, welche namentlich bei der ſchwieri- gen Deutung des zu theilenden Horts will- komene Hilfe leiſten. Nichts iſt bewaͤhrender und zugleich ſicherer, als was aus zweien Quellen wieder zuſammenfließt, die fruͤh von einander getrennt, in eignem Bette gegangen ſind; in dieſen Volks-Maͤrchen liegt lauter urdeutſcher Mythus, den man fuͤr verloren

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 2. Berlin, 1815, S. VII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1815/12>, abgerufen am 25.04.2024.