Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 2. Berlin, 1815.

Bild:
<< vorherige Seite

schenk ich dir ein Ei, das zerbrich wenn du in
großer Noth bist." -- Da dankte sie dem Mond
und ging weiter, bis der Nachtwind wehte, da
sprach sie zu ihm: "du wehst ja durch alle Bäume
und unter alle Blätterchen weg, hast du keine weiße
Taube fliegen sehen?" -- "Nein, sagte der Nacht-
wind, ich habe keine gesehen, aber ich will die
drei andern Winde fragen, die haben sie vielleicht
gesehen." Der Ostwind und der Westwind kamen
und sagten, sie hätten nichts gesehen, der Südwind
aber sprach: "die weiße Taube hab' ich gesehen,
sie ist zum rothen Meer geflogen, da ist sie wie-
der ein Löwe geworden, denn die sieben Jahre
sind herum, und der Löwe steht dort im Kampf
mit einem Lindwurm, der Lindwurm ist aber eine
verzauberte Prinzessin." Da sagte der Nachtwind
zu ihr: "ich will dir Rath geben, geh' zum ro-
then Meer' am rechten Ufer da stehen große Ru-
then, die zähl' und die eilfte schneid' dir ab und
schlag' den Lindwurm damit, dann kann ihn der
Löwe bezwingen und beide bekommen auch ihren
menschlichen Leib wieder; dann schau dich um und
du siehst den Vogel Greif am rothen Meer sitzen,
schwing' dich auf seinen Rücken mit dem Prinzen,
der Vogel wird euch übers Meer nach Haus tra-
gen; da hast du auch eine Nuß, wenn du mitten
über dem Meer bist, laß sie herab fallen, alsbald
wird ein großer Nußbaum aus dem Wasser her-
vorwachsen, auf dem sich der Greif ruht, und

ſchenk ich dir ein Ei, das zerbrich wenn du in
großer Noth biſt.“ — Da dankte ſie dem Mond
und ging weiter, bis der Nachtwind wehte, da
ſprach ſie zu ihm: „du wehſt ja durch alle Baͤume
und unter alle Blaͤtterchen weg, haſt du keine weiße
Taube fliegen ſehen?“ — „Nein, ſagte der Nacht-
wind, ich habe keine geſehen, aber ich will die
drei andern Winde fragen, die haben ſie vielleicht
geſehen.“ Der Oſtwind und der Weſtwind kamen
und ſagten, ſie haͤtten nichts geſehen, der Suͤdwind
aber ſprach: „die weiße Taube hab’ ich geſehen,
ſie iſt zum rothen Meer geflogen, da iſt ſie wie-
der ein Loͤwe geworden, denn die ſieben Jahre
ſind herum, und der Loͤwe ſteht dort im Kampf
mit einem Lindwurm, der Lindwurm iſt aber eine
verzauberte Prinzeſſin.“ Da ſagte der Nachtwind
zu ihr: „ich will dir Rath geben, geh’ zum ro-
then Meer’ am rechten Ufer da ſtehen große Ru-
then, die zaͤhl’ und die eilfte ſchneid’ dir ab und
ſchlag’ den Lindwurm damit, dann kann ihn der
Loͤwe bezwingen und beide bekommen auch ihren
menſchlichen Leib wieder; dann ſchau dich um und
du ſiehſt den Vogel Greif am rothen Meer ſitzen,
ſchwing’ dich auf ſeinen Ruͤcken mit dem Prinzen,
der Vogel wird euch uͤbers Meer nach Haus tra-
gen; da haſt du auch eine Nuß, wenn du mitten
uͤber dem Meer biſt, laß ſie herab fallen, alsbald
wird ein großer Nußbaum aus dem Waſſer her-
vorwachſen, auf dem ſich der Greif ruht, und

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0033" n="12"/>
&#x017F;chenk ich dir ein Ei, das zerbrich wenn du in<lb/>
großer Noth bi&#x017F;t.&#x201C; &#x2014; Da dankte &#x017F;ie dem Mond<lb/>
und ging weiter, bis der <hi rendition="#g">Nachtwind</hi> wehte, da<lb/>
&#x017F;prach &#x017F;ie zu ihm: &#x201E;du weh&#x017F;t ja durch alle Ba&#x0364;ume<lb/>
und unter alle Bla&#x0364;tterchen weg, ha&#x017F;t du keine weiße<lb/>
Taube fliegen &#x017F;ehen?&#x201C; &#x2014; &#x201E;Nein, &#x017F;agte der Nacht-<lb/>
wind, ich habe keine ge&#x017F;ehen, aber ich will die<lb/>
drei andern Winde fragen, die haben &#x017F;ie vielleicht<lb/>
ge&#x017F;ehen.&#x201C; Der O&#x017F;twind und der We&#x017F;twind kamen<lb/>
und &#x017F;agten, &#x017F;ie ha&#x0364;tten nichts ge&#x017F;ehen, der Su&#x0364;dwind<lb/>
aber &#x017F;prach: &#x201E;die weiße Taube hab&#x2019; ich ge&#x017F;ehen,<lb/>
&#x017F;ie i&#x017F;t zum rothen Meer geflogen, da i&#x017F;t &#x017F;ie wie-<lb/>
der ein Lo&#x0364;we geworden, denn die &#x017F;ieben Jahre<lb/>
&#x017F;ind herum, und der Lo&#x0364;we &#x017F;teht dort im Kampf<lb/>
mit einem Lindwurm, der Lindwurm i&#x017F;t aber eine<lb/>
verzauberte Prinze&#x017F;&#x017F;in.&#x201C; Da &#x017F;agte der Nachtwind<lb/>
zu ihr: &#x201E;ich will dir Rath geben, geh&#x2019; zum ro-<lb/>
then Meer&#x2019; am rechten Ufer da &#x017F;tehen große Ru-<lb/>
then, die za&#x0364;hl&#x2019; und die eilfte &#x017F;chneid&#x2019; dir ab und<lb/>
&#x017F;chlag&#x2019; den Lindwurm damit, dann kann ihn der<lb/>
Lo&#x0364;we bezwingen und beide bekommen auch ihren<lb/>
men&#x017F;chlichen Leib wieder; dann &#x017F;chau dich um und<lb/>
du &#x017F;ieh&#x017F;t den Vogel Greif am rothen Meer &#x017F;itzen,<lb/>
&#x017F;chwing&#x2019; dich auf &#x017F;einen Ru&#x0364;cken mit dem Prinzen,<lb/>
der Vogel wird euch u&#x0364;bers Meer nach Haus tra-<lb/>
gen; da ha&#x017F;t du auch eine Nuß, wenn du mitten<lb/>
u&#x0364;ber dem Meer bi&#x017F;t, laß &#x017F;ie herab fallen, alsbald<lb/>
wird ein großer Nußbaum aus dem Wa&#x017F;&#x017F;er her-<lb/>
vorwach&#x017F;en, auf dem &#x017F;ich der Greif ruht, und<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[12/0033] ſchenk ich dir ein Ei, das zerbrich wenn du in großer Noth biſt.“ — Da dankte ſie dem Mond und ging weiter, bis der Nachtwind wehte, da ſprach ſie zu ihm: „du wehſt ja durch alle Baͤume und unter alle Blaͤtterchen weg, haſt du keine weiße Taube fliegen ſehen?“ — „Nein, ſagte der Nacht- wind, ich habe keine geſehen, aber ich will die drei andern Winde fragen, die haben ſie vielleicht geſehen.“ Der Oſtwind und der Weſtwind kamen und ſagten, ſie haͤtten nichts geſehen, der Suͤdwind aber ſprach: „die weiße Taube hab’ ich geſehen, ſie iſt zum rothen Meer geflogen, da iſt ſie wie- der ein Loͤwe geworden, denn die ſieben Jahre ſind herum, und der Loͤwe ſteht dort im Kampf mit einem Lindwurm, der Lindwurm iſt aber eine verzauberte Prinzeſſin.“ Da ſagte der Nachtwind zu ihr: „ich will dir Rath geben, geh’ zum ro- then Meer’ am rechten Ufer da ſtehen große Ru- then, die zaͤhl’ und die eilfte ſchneid’ dir ab und ſchlag’ den Lindwurm damit, dann kann ihn der Loͤwe bezwingen und beide bekommen auch ihren menſchlichen Leib wieder; dann ſchau dich um und du ſiehſt den Vogel Greif am rothen Meer ſitzen, ſchwing’ dich auf ſeinen Ruͤcken mit dem Prinzen, der Vogel wird euch uͤbers Meer nach Haus tra- gen; da haſt du auch eine Nuß, wenn du mitten uͤber dem Meer biſt, laß ſie herab fallen, alsbald wird ein großer Nußbaum aus dem Waſſer her- vorwachſen, auf dem ſich der Greif ruht, und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1815
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1815/33
Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 2. Berlin, 1815, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1815/33>, abgerufen am 25.04.2024.