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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 2. Berlin, 1815.

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Perlen seyn," aber der Mythische Zug selbst ist schon
untergegangen und hat nur diese Spur hinterlassen.
Die Wunderdinge, welche im ital. verlangt werden,
das tanzende Wasser, der singende Apfel und der
grüne Vogel kommen mit der 1001 Nacht überein;
aber abweichend und begründeter ist, wenn die Schul-
digen, von welchen die Kinder ins Wasser geworfen
waren, bewirken, daß die Schwester ihre Brüder zu
dem gefährlichen Unternehmen reizt, weil sie hoffen,
diese sollten dabei umkommen: in der 1001 Nacht
bleibt es unerklärt, warum die Andächtige die Neu-
gierde der Schwester rege macht. Dagegen kommt
das Verbot sich nicht umzusehen ohne Noth bei Stra-
parola vor, da die Strafe des Versteinens nicht
darauf steht.

Wichtiger als diese Abweichungen der arab. und
ital. Sage unter sich, ist es, anzuführen, wie un-
sere Deutsche in einigem mit dieser, in anderm mit
jener übereinkommt; der sicherste Beweis ihrer Un-
abhängigkeit (wiewohl schon jeder, der die Gegend
kennte, wo es aufgenommen ist, überzeugt seyn wür-
de, daß jene fremde Erzählungen niemals dorthin ge-
langt sind). -- Mit Straparola stimmt es, daß die
Kinder einen rothen (goldenen) Stern auf der Stir-
ne (altes Zeichen hoher Abkunft: Flamme auf dem
Haupt *); mit zur Welt bringen, wovon die arab.
Erzählung nichts weiß. Mit dieser dagegen, daß kei-
ne böse Stiefmutter, wie bei Straparola mitwirkt,
sondern blos die Schwestern; daß die Kinder in drei
Jahren nach einander nicht auf einmal zur Welt
kommen und sich die beiden ersten Male der König
besänftigt. Eigenthümlich dem deutschen und schön
ists, daß aus dem Wasser jedesmal, wie das Kind
hineingeworfen ist, ein Vögelchen aufsteigt, welches
andeutet, daß der Geist das Leben sich erhalten hat,
(denn die Seele ist ein Vogel, eine Taube), wie im
Märchen vom Machandelboom (I. 47.); darauf be-

*) Es gibt auch Geschlechter, wo bei jedem Mitglied,
wenn es heftig bewegt wird, von Zorn, Schaam, ein
scharf gezeichneter rother Blutstreif auf der Stirne
sich zeigt.

Perlen ſeyn,“ aber der Mythiſche Zug ſelbſt iſt ſchon
untergegangen und hat nur dieſe Spur hinterlaſſen.
Die Wunderdinge, welche im ital. verlangt werden,
das tanzende Waſſer, der ſingende Apfel und der
gruͤne Vogel kommen mit der 1001 Nacht uͤberein;
aber abweichend und begruͤndeter iſt, wenn die Schul-
digen, von welchen die Kinder ins Waſſer geworfen
waren, bewirken, daß die Schweſter ihre Bruͤder zu
dem gefaͤhrlichen Unternehmen reizt, weil ſie hoffen,
dieſe ſollten dabei umkommen: in der 1001 Nacht
bleibt es unerklaͤrt, warum die Andaͤchtige die Neu-
gierde der Schweſter rege macht. Dagegen kommt
das Verbot ſich nicht umzuſehen ohne Noth bei Stra-
parola vor, da die Strafe des Verſteinens nicht
darauf ſteht.

Wichtiger als dieſe Abweichungen der arab. und
ital. Sage unter ſich, iſt es, anzufuͤhren, wie un-
ſere Deutſche in einigem mit dieſer, in anderm mit
jener uͤbereinkommt; der ſicherſte Beweis ihrer Un-
abhaͤngigkeit (wiewohl ſchon jeder, der die Gegend
kennte, wo es aufgenommen iſt, uͤberzeugt ſeyn wuͤr-
de, daß jene fremde Erzaͤhlungen niemals dorthin ge-
langt ſind). — Mit Straparola ſtimmt es, daß die
Kinder einen rothen (goldenen) Stern auf der Stir-
ne (altes Zeichen hoher Abkunft: Flamme auf dem
Haupt *); mit zur Welt bringen, wovon die arab.
Erzaͤhlung nichts weiß. Mit dieſer dagegen, daß kei-
ne boͤſe Stiefmutter, wie bei Straparola mitwirkt,
ſondern blos die Schweſtern; daß die Kinder in drei
Jahren nach einander nicht auf einmal zur Welt
kommen und ſich die beiden erſten Male der Koͤnig
beſaͤnftigt. Eigenthuͤmlich dem deutſchen und ſchoͤn
iſts, daß aus dem Waſſer jedesmal, wie das Kind
hineingeworfen iſt, ein Voͤgelchen aufſteigt, welches
andeutet, daß der Geiſt das Leben ſich erhalten hat,
(denn die Seele iſt ein Vogel, eine Taube), wie im
Maͤrchen vom Machandelboom (I. 47.); darauf be-

*) Es gibt auch Geſchlechter, wo bei jedem Mitglied,
wenn es heftig bewegt wird, von Zorn, Schaam, ein
ſcharf gezeichneter rother Blutſtreif auf der Stirne
ſich zeigt.
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[XVIII/0337] Perlen ſeyn,“ aber der Mythiſche Zug ſelbſt iſt ſchon untergegangen und hat nur dieſe Spur hinterlaſſen. Die Wunderdinge, welche im ital. verlangt werden, das tanzende Waſſer, der ſingende Apfel und der gruͤne Vogel kommen mit der 1001 Nacht uͤberein; aber abweichend und begruͤndeter iſt, wenn die Schul- digen, von welchen die Kinder ins Waſſer geworfen waren, bewirken, daß die Schweſter ihre Bruͤder zu dem gefaͤhrlichen Unternehmen reizt, weil ſie hoffen, dieſe ſollten dabei umkommen: in der 1001 Nacht bleibt es unerklaͤrt, warum die Andaͤchtige die Neu- gierde der Schweſter rege macht. Dagegen kommt das Verbot ſich nicht umzuſehen ohne Noth bei Stra- parola vor, da die Strafe des Verſteinens nicht darauf ſteht. Wichtiger als dieſe Abweichungen der arab. und ital. Sage unter ſich, iſt es, anzufuͤhren, wie un- ſere Deutſche in einigem mit dieſer, in anderm mit jener uͤbereinkommt; der ſicherſte Beweis ihrer Un- abhaͤngigkeit (wiewohl ſchon jeder, der die Gegend kennte, wo es aufgenommen iſt, uͤberzeugt ſeyn wuͤr- de, daß jene fremde Erzaͤhlungen niemals dorthin ge- langt ſind). — Mit Straparola ſtimmt es, daß die Kinder einen rothen (goldenen) Stern auf der Stir- ne (altes Zeichen hoher Abkunft: Flamme auf dem Haupt *); mit zur Welt bringen, wovon die arab. Erzaͤhlung nichts weiß. Mit dieſer dagegen, daß kei- ne boͤſe Stiefmutter, wie bei Straparola mitwirkt, ſondern blos die Schweſtern; daß die Kinder in drei Jahren nach einander nicht auf einmal zur Welt kommen und ſich die beiden erſten Male der Koͤnig beſaͤnftigt. Eigenthuͤmlich dem deutſchen und ſchoͤn iſts, daß aus dem Waſſer jedesmal, wie das Kind hineingeworfen iſt, ein Voͤgelchen aufſteigt, welches andeutet, daß der Geiſt das Leben ſich erhalten hat, (denn die Seele iſt ein Vogel, eine Taube), wie im Maͤrchen vom Machandelboom (I. 47.); darauf be- *) Es gibt auch Geſchlechter, wo bei jedem Mitglied, wenn es heftig bewegt wird, von Zorn, Schaam, ein ſcharf gezeichneter rother Blutſtreif auf der Stirne ſich zeigt.

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 2. Berlin, 1815, S. XVIII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1815/337>, abgerufen am 28.03.2024.