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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 5. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1843.

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sich nicht, doch freuten sie sich daß sie nicht mehr so einsam waren. Von nun an trieben sie jeden Tag ihre Herde neben einander: sie sprachen nicht viel, aber sie fühlten sich getröstet. Eines Abends, als der Vollmond am Himmel schien und die Schafe schon ruhten, holte der Schäfer die Flöte aus seiner Tasche, und blies ein schönes aber trauriges Lied. Als er fertig war, bemerkte er daß die Schäferin bitterlich weinte. 'Warum weinst du?' fragte er. 'Ach,' antwortete sie, 'so schien auch der Vollmond als ich zum letztenmal dieses Lied auf der Flöte blies, und das Haupt meines Liebsten aus dem Wasser hervorkam.' Er sah sie an, und es war ihm als fiele eine Decke von den Augen: er erkannte seine liebste Frau und als sie ihn anschaute und der Mond auf sein Gesicht schien, erkannte sie ihn auch. Sie umarmten und küßten sich, und ob sie glückselig waren braucht keiner zu fragen.



sich nicht, doch freuten sie sich daß sie nicht mehr so einsam waren. Von nun an trieben sie jeden Tag ihre Herde neben einander: sie sprachen nicht viel, aber sie fühlten sich getröstet. Eines Abends, als der Vollmond am Himmel schien und die Schafe schon ruhten, holte der Schäfer die Flöte aus seiner Tasche, und blies ein schönes aber trauriges Lied. Als er fertig war, bemerkte er daß die Schäferin bitterlich weinte. ‘Warum weinst du?’ fragte er. ‘Ach,’ antwortete sie, ‘so schien auch der Vollmond als ich zum letztenmal dieses Lied auf der Flöte blies, und das Haupt meines Liebsten aus dem Wasser hervorkam.’ Er sah sie an, und es war ihm als fiele eine Decke von den Augen: er erkannte seine liebste Frau und als sie ihn anschaute und der Mond auf sein Gesicht schien, erkannte sie ihn auch. Sie umarmten und küßten sich, und ob sie glückselig waren braucht keiner zu fragen.



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[432/0442] sich nicht, doch freuten sie sich daß sie nicht mehr so einsam waren. Von nun an trieben sie jeden Tag ihre Herde neben einander: sie sprachen nicht viel, aber sie fühlten sich getröstet. Eines Abends, als der Vollmond am Himmel schien und die Schafe schon ruhten, holte der Schäfer die Flöte aus seiner Tasche, und blies ein schönes aber trauriges Lied. Als er fertig war, bemerkte er daß die Schäferin bitterlich weinte. ‘Warum weinst du?’ fragte er. ‘Ach,’ antwortete sie, ‘so schien auch der Vollmond als ich zum letztenmal dieses Lied auf der Flöte blies, und das Haupt meines Liebsten aus dem Wasser hervorkam.’ Er sah sie an, und es war ihm als fiele eine Decke von den Augen: er erkannte seine liebste Frau und als sie ihn anschaute und der Mond auf sein Gesicht schien, erkannte sie ihn auch. Sie umarmten und küßten sich, und ob sie glückselig waren braucht keiner zu fragen.

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 5. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1843, S. 432. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1843/442>, abgerufen am 29.03.2024.