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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 5. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1843.

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und von neuem anfangen. Da stützte es einmal die Elbogen auf den Tisch, legte sein Gesicht in beide Hände, und rief 'ist denn niemand auf Gottes Erdboden, der sich meiner erbarmt?' Indem hörte es eine sanfte Stimme, die sprach 'tröste dich, mein Kind, ich bin gekommen dir zu helfen.' Das Mädchen blickte auf, und eine alte Frau stand neben ihm. Sie faßte das Mädchen freundlich an der Hand, und sprach 'vertraue mir nur an was dich drückt.' Da sie so herzlich sprach, so erzählte ihr das Mädchen von seinem traurigen Leben, daß ihm eine Last auf die andere gelegt würde, und es mit den aufgegebenen Arbeiten nicht mehr zu Ende kommen könnte. 'Wenn ich mit diesen Federn heute Abend nicht fertig bin, so schlägt mich die Stiefmutter; sie hat mirs angedroht, und ich weiß sie hält Wort.' Ihre Thränen fiengen wieder an zu fließen, aber die gute Alte sprach 'sei unbesorgt, mein Kind, ruhe dich aus, und schlafe, ich will derweil deine Arbeit verrichten.' Das Mädchen legte sich auf sein Bett, und schlief bald ein. Die Alte setzte sich an den Tisch bei die Federn, hu! wie flogen sie von den Kielen ab, die sie mit ihren dürren Händen kaum berührte. Bald war sie mit den zwölf Pfund fertig. Als das Mädchen erwachte, lagen große schneeweiße Haufen aufgethürmt, und alles war im Zimmer reinlich aufgeräumt, aber die Alte war verschwunden. Das Mädchen dankte Gott, und saß still bis der Abend kam. Da trat die Stiefmutter herein, und staunte über die vollbrachte Arbeit. 'Siehst du, Trulle,' sprach sie, 'was man ausrichtet, wenn man fleißig ist? hättest du nicht noch etwas anderes vornehmen können? aber da sitzest du, und legst die Hände in den Schoß.'

und von neuem anfangen. Da stützte es einmal die Elbogen auf den Tisch, legte sein Gesicht in beide Hände, und rief ‘ist denn niemand auf Gottes Erdboden, der sich meiner erbarmt?’ Indem hörte es eine sanfte Stimme, die sprach ‘tröste dich, mein Kind, ich bin gekommen dir zu helfen.’ Das Mädchen blickte auf, und eine alte Frau stand neben ihm. Sie faßte das Mädchen freundlich an der Hand, und sprach ‘vertraue mir nur an was dich drückt.’ Da sie so herzlich sprach, so erzählte ihr das Mädchen von seinem traurigen Leben, daß ihm eine Last auf die andere gelegt würde, und es mit den aufgegebenen Arbeiten nicht mehr zu Ende kommen könnte. ‘Wenn ich mit diesen Federn heute Abend nicht fertig bin, so schlägt mich die Stiefmutter; sie hat mirs angedroht, und ich weiß sie hält Wort.’ Ihre Thränen fiengen wieder an zu fließen, aber die gute Alte sprach ‘sei unbesorgt, mein Kind, ruhe dich aus, und schlafe, ich will derweil deine Arbeit verrichten.’ Das Mädchen legte sich auf sein Bett, und schlief bald ein. Die Alte setzte sich an den Tisch bei die Federn, hu! wie flogen sie von den Kielen ab, die sie mit ihren dürren Händen kaum berührte. Bald war sie mit den zwölf Pfund fertig. Als das Mädchen erwachte, lagen große schneeweiße Haufen aufgethürmt, und alles war im Zimmer reinlich aufgeräumt, aber die Alte war verschwunden. Das Mädchen dankte Gott, und saß still bis der Abend kam. Da trat die Stiefmutter herein, und staunte über die vollbrachte Arbeit. ‘Siehst du, Trulle,’ sprach sie, ‘was man ausrichtet, wenn man fleißig ist? hättest du nicht noch etwas anderes vornehmen können? aber da sitzest du, und legst die Hände in den Schoß.’

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[447/0457] und von neuem anfangen. Da stützte es einmal die Elbogen auf den Tisch, legte sein Gesicht in beide Hände, und rief ‘ist denn niemand auf Gottes Erdboden, der sich meiner erbarmt?’ Indem hörte es eine sanfte Stimme, die sprach ‘tröste dich, mein Kind, ich bin gekommen dir zu helfen.’ Das Mädchen blickte auf, und eine alte Frau stand neben ihm. Sie faßte das Mädchen freundlich an der Hand, und sprach ‘vertraue mir nur an was dich drückt.’ Da sie so herzlich sprach, so erzählte ihr das Mädchen von seinem traurigen Leben, daß ihm eine Last auf die andere gelegt würde, und es mit den aufgegebenen Arbeiten nicht mehr zu Ende kommen könnte. ‘Wenn ich mit diesen Federn heute Abend nicht fertig bin, so schlägt mich die Stiefmutter; sie hat mirs angedroht, und ich weiß sie hält Wort.’ Ihre Thränen fiengen wieder an zu fließen, aber die gute Alte sprach ‘sei unbesorgt, mein Kind, ruhe dich aus, und schlafe, ich will derweil deine Arbeit verrichten.’ Das Mädchen legte sich auf sein Bett, und schlief bald ein. Die Alte setzte sich an den Tisch bei die Federn, hu! wie flogen sie von den Kielen ab, die sie mit ihren dürren Händen kaum berührte. Bald war sie mit den zwölf Pfund fertig. Als das Mädchen erwachte, lagen große schneeweiße Haufen aufgethürmt, und alles war im Zimmer reinlich aufgeräumt, aber die Alte war verschwunden. Das Mädchen dankte Gott, und saß still bis der Abend kam. Da trat die Stiefmutter herein, und staunte über die vollbrachte Arbeit. ‘Siehst du, Trulle,’ sprach sie, ‘was man ausrichtet, wenn man fleißig ist? hättest du nicht noch etwas anderes vornehmen können? aber da sitzest du, und legst die Hände in den Schoß.’

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 5. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1843, S. 447. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1843/457>, abgerufen am 29.03.2024.