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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 6. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1850.

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ich nicht weinen? weil ich zwei Augen habe wie andere Menschen, so können mich meine Schwestern und meine Mutter nicht leiden, stoßen mich aus einer Ecke in die andere, werfen mir alte Kleider hin und geben mir nichts zu essen als was sie übrig lassen. Heute haben sie mir so wenig gegeben, daß ich noch ganz hungrig bin.' Sprach die weise Frau 'Zweiäuglein, trockne dir dein Angesicht, ich will dir etwas sagen, daß du nicht mehr hungern sollst. Sprich nur zu deiner Ziege

'Zicklein, meck,
Tischlein, deck,'

so wird ein sauber gedecktes Tischlein vor dir stehen und das schönste Essen darauf, daß du essen kannst so viel du Lust hast. Und wenn du satt bist und das Tischlein nicht mehr brauchst, so sprich nur

'Zicklein, meck,
Tischlein, weg,'

so wirds vor deinen Augen wieder verschwinden.' Darauf gieng die weise Frau fort. Zweiäuglein aber dachte 'ich muß gleich einmal versuchen ob es wahr ist, was sie gesagt hat, denn mich hungert gar zu sehr' und sprach

'Zicklein, meck,
Tischlein, deck,'

und kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, so stand da ein Tischlein mit einem weißen Tüchlein gedeckt, darauf ein Teller mit Messer und Gabel und silbernem Löffel, und die schönsten Speisen standen rund herum, rauchten und waren noch warm, als wären sie eben aus der Küche gekommen. Da sagte Zweiäuglein das

ich nicht weinen? weil ich zwei Augen habe wie andere Menschen, so können mich meine Schwestern und meine Mutter nicht leiden, stoßen mich aus einer Ecke in die andere, werfen mir alte Kleider hin und geben mir nichts zu essen als was sie übrig lassen. Heute haben sie mir so wenig gegeben, daß ich noch ganz hungrig bin.’ Sprach die weise Frau ‘Zweiäuglein, trockne dir dein Angesicht, ich will dir etwas sagen, daß du nicht mehr hungern sollst. Sprich nur zu deiner Ziege

‘Zicklein, meck,
Tischlein, deck,’

so wird ein sauber gedecktes Tischlein vor dir stehen und das schönste Essen darauf, daß du essen kannst so viel du Lust hast. Und wenn du satt bist und das Tischlein nicht mehr brauchst, so sprich nur

‘Zicklein, meck,
Tischlein, weg,’

so wirds vor deinen Augen wieder verschwinden.’ Darauf gieng die weise Frau fort. Zweiäuglein aber dachte ‘ich muß gleich einmal versuchen ob es wahr ist, was sie gesagt hat, denn mich hungert gar zu sehr’ und sprach

‘Zicklein, meck,
Tischlein, deck,’

und kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, so stand da ein Tischlein mit einem weißen Tüchlein gedeckt, darauf ein Teller mit Messer und Gabel und silbernem Löffel, und die schönsten Speisen standen rund herum, rauchten und waren noch warm, als wären sie eben aus der Küche gekommen. Da sagte Zweiäuglein das

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[248/0260] ich nicht weinen? weil ich zwei Augen habe wie andere Menschen, so können mich meine Schwestern und meine Mutter nicht leiden, stoßen mich aus einer Ecke in die andere, werfen mir alte Kleider hin und geben mir nichts zu essen als was sie übrig lassen. Heute haben sie mir so wenig gegeben, daß ich noch ganz hungrig bin.’ Sprach die weise Frau ‘Zweiäuglein, trockne dir dein Angesicht, ich will dir etwas sagen, daß du nicht mehr hungern sollst. Sprich nur zu deiner Ziege ‘Zicklein, meck, Tischlein, deck,’ so wird ein sauber gedecktes Tischlein vor dir stehen und das schönste Essen darauf, daß du essen kannst so viel du Lust hast. Und wenn du satt bist und das Tischlein nicht mehr brauchst, so sprich nur ‘Zicklein, meck, Tischlein, weg,’ so wirds vor deinen Augen wieder verschwinden.’ Darauf gieng die weise Frau fort. Zweiäuglein aber dachte ‘ich muß gleich einmal versuchen ob es wahr ist, was sie gesagt hat, denn mich hungert gar zu sehr’ und sprach ‘Zicklein, meck, Tischlein, deck,’ und kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, so stand da ein Tischlein mit einem weißen Tüchlein gedeckt, darauf ein Teller mit Messer und Gabel und silbernem Löffel, und die schönsten Speisen standen rund herum, rauchten und waren noch warm, als wären sie eben aus der Küche gekommen. Da sagte Zweiäuglein das

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 6. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1850, S. 248. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1850/260>, abgerufen am 28.03.2024.