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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 7. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1857.

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115.
Die klare Sonne bringts an den Tag.

Ein Schneidergesell reiste in der Welt auf sein Handwerk herum und konnte er einmal keine Arbeit finden, und war die Armuth bei ihm so groß, daß er keinen Heller Zehrgeld hatte. Jn der Zeit begegnete ihm auf dem Weg ein Jude, und da dachte er der hätte viel Geld bei sich und stieß Gott aus seinem Herzen, gieng auf ihn los, und sprach 'gib mir dein Geld, oder ich schlag dich todt.' Da sagte der Jude 'schenkt mir doch das Leben, Geld hab ich keins und nicht mehr als acht Heller.' Der Schneider aber sprach 'du hast doch Geld, und das soll auch heraus,' brauchte Gewalt und schlug ihn so lange bis er nah am Tod war. Und wie der Jude nun sterben wollte, sprach er das letzte Wort 'die klare Sonne wird es an den Tag bringen!' und starb damit. Der Schneidergesell griff ihm in die Tasche und suchte nach Geld, er fand aber nicht mehr als die acht Heller, wie der Jude gesagt hatte. Da packte er ihn auf, trug ihn hinter einen Busch und zog weiter auf sein Handwerk. Wie er nun lange Zeit gereist war, kam er in eine Stadt bei einem Meister in Arbeit, der hatte eine schöne Tochter, in die verliebte er sich, und heirathete sie und lebte in einer guten vergnügten Ehe.

Über lang, als sie schon zwei Kinder hatten, starben Schwiegervater und Schwiegermutter, und die jungen Leute hatten den Haushalt allein. Eines Morgens, wie der Mann auf dem Tisch vor dem Fenster saß, brachte ihm die Frau den Kaffee, und als er ihn in die Unterschale ausgegossen hatte und eben trinken wollte

115.
Die klare Sonne bringts an den Tag.

Ein Schneidergesell reiste in der Welt auf sein Handwerk herum und konnte er einmal keine Arbeit finden, und war die Armuth bei ihm so groß, daß er keinen Heller Zehrgeld hatte. Jn der Zeit begegnete ihm auf dem Weg ein Jude, und da dachte er der hätte viel Geld bei sich und stieß Gott aus seinem Herzen, gieng auf ihn los, und sprach ‘gib mir dein Geld, oder ich schlag dich todt.’ Da sagte der Jude ‘schenkt mir doch das Leben, Geld hab ich keins und nicht mehr als acht Heller.’ Der Schneider aber sprach ‘du hast doch Geld, und das soll auch heraus,’ brauchte Gewalt und schlug ihn so lange bis er nah am Tod war. Und wie der Jude nun sterben wollte, sprach er das letzte Wort ‘die klare Sonne wird es an den Tag bringen!’ und starb damit. Der Schneidergesell griff ihm in die Tasche und suchte nach Geld, er fand aber nicht mehr als die acht Heller, wie der Jude gesagt hatte. Da packte er ihn auf, trug ihn hinter einen Busch und zog weiter auf sein Handwerk. Wie er nun lange Zeit gereist war, kam er in eine Stadt bei einem Meister in Arbeit, der hatte eine schöne Tochter, in die verliebte er sich, und heirathete sie und lebte in einer guten vergnügten Ehe.

Über lang, als sie schon zwei Kinder hatten, starben Schwiegervater und Schwiegermutter, und die jungen Leute hatten den Haushalt allein. Eines Morgens, wie der Mann auf dem Tisch vor dem Fenster saß, brachte ihm die Frau den Kaffee, und als er ihn in die Unterschale ausgegossen hatte und eben trinken wollte

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[148/0160] 115. Die klare Sonne bringts an den Tag. Ein Schneidergesell reiste in der Welt auf sein Handwerk herum und konnte er einmal keine Arbeit finden, und war die Armuth bei ihm so groß, daß er keinen Heller Zehrgeld hatte. Jn der Zeit begegnete ihm auf dem Weg ein Jude, und da dachte er der hätte viel Geld bei sich und stieß Gott aus seinem Herzen, gieng auf ihn los, und sprach ‘gib mir dein Geld, oder ich schlag dich todt.’ Da sagte der Jude ‘schenkt mir doch das Leben, Geld hab ich keins und nicht mehr als acht Heller.’ Der Schneider aber sprach ‘du hast doch Geld, und das soll auch heraus,’ brauchte Gewalt und schlug ihn so lange bis er nah am Tod war. Und wie der Jude nun sterben wollte, sprach er das letzte Wort ‘die klare Sonne wird es an den Tag bringen!’ und starb damit. Der Schneidergesell griff ihm in die Tasche und suchte nach Geld, er fand aber nicht mehr als die acht Heller, wie der Jude gesagt hatte. Da packte er ihn auf, trug ihn hinter einen Busch und zog weiter auf sein Handwerk. Wie er nun lange Zeit gereist war, kam er in eine Stadt bei einem Meister in Arbeit, der hatte eine schöne Tochter, in die verliebte er sich, und heirathete sie und lebte in einer guten vergnügten Ehe. Über lang, als sie schon zwei Kinder hatten, starben Schwiegervater und Schwiegermutter, und die jungen Leute hatten den Haushalt allein. Eines Morgens, wie der Mann auf dem Tisch vor dem Fenster saß, brachte ihm die Frau den Kaffee, und als er ihn in die Unterschale ausgegossen hatte und eben trinken wollte

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 7. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1857, S. 148. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1857/160>, abgerufen am 28.03.2024.