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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 7. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1857.

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122.
Der Krautesel.

Es war einmal ein junger Jäger, der gieng in den Wald auf Anstand. Er hatte ein frisches und fröhliches Herz, und als er daher gieng und auf dem Blatt pfiff, kam ein altes häßliches Mütterchen, das redete ihn an und sprach 'guten Tag, lieber Jäger, du bist wohl lustig und vergnügt, aber ich leide Hunger und Durst, gib mir doch ein Almosen.' Da dauerte den Jäger das arme Mütterchen, daß er in seine Tasche griff und ihr nach seinem Vermögen etwas reichte. Nun wollte er weiter gehen, aber die alte Frau hielt ihn an, und sprach 'höre, lieber Jäger, was ich dir sage, für dein gutes Herz will ich dir ein Geschenk machen: geh nur immer deiner Wege, über ein Weilchen wirst du an einen Baum kommen, darauf sitzen neun Vögel, die haben einen Mantel in den Krallen und raufen sich darum. Da lege du deine Büchse an und schieß mitten drunter: den Mantel werden sie dir wohl fallen lassen, aber auch einer von den Vögeln wird getroffen sein und todt herab stürzen. Den Mantel nimm mit dir, es ist ein Wunschmantel, wenn du ihn um die Schultern wirfst, brauchst du dich nur an einen Ort zu wünschen, und im Augenblick bist du dort. Aus dem todten Vogel nimm das Herz heraus, und verschluck es ganz, dann wirst du allen und jeden Morgen früh beim Aufstehen ein Goldstück unter deinem Kopfkissen finden.'

Der Jäger dankte der weisen Frau und dachte bei sich 'schöne Dinge, die sie mir versprochen hat, wenns nur auch all so einträfe.' Doch, wie er etwa hundert Schritte gegangen war, hörte

122.
Der Krautesel.

Es war einmal ein junger Jäger, der gieng in den Wald auf Anstand. Er hatte ein frisches und fröhliches Herz, und als er daher gieng und auf dem Blatt pfiff, kam ein altes häßliches Mütterchen, das redete ihn an und sprach ‘guten Tag, lieber Jäger, du bist wohl lustig und vergnügt, aber ich leide Hunger und Durst, gib mir doch ein Almosen.’ Da dauerte den Jäger das arme Mütterchen, daß er in seine Tasche griff und ihr nach seinem Vermögen etwas reichte. Nun wollte er weiter gehen, aber die alte Frau hielt ihn an, und sprach ‘höre, lieber Jäger, was ich dir sage, für dein gutes Herz will ich dir ein Geschenk machen: geh nur immer deiner Wege, über ein Weilchen wirst du an einen Baum kommen, darauf sitzen neun Vögel, die haben einen Mantel in den Krallen und raufen sich darum. Da lege du deine Büchse an und schieß mitten drunter: den Mantel werden sie dir wohl fallen lassen, aber auch einer von den Vögeln wird getroffen sein und todt herab stürzen. Den Mantel nimm mit dir, es ist ein Wunschmantel, wenn du ihn um die Schultern wirfst, brauchst du dich nur an einen Ort zu wünschen, und im Augenblick bist du dort. Aus dem todten Vogel nimm das Herz heraus, und verschluck es ganz, dann wirst du allen und jeden Morgen früh beim Aufstehen ein Goldstück unter deinem Kopfkissen finden.’

Der Jäger dankte der weisen Frau und dachte bei sich ‘schöne Dinge, die sie mir versprochen hat, wenns nur auch all so einträfe.’ Doch, wie er etwa hundert Schritte gegangen war, hörte

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[173/0185] 122. Der Krautesel. Es war einmal ein junger Jäger, der gieng in den Wald auf Anstand. Er hatte ein frisches und fröhliches Herz, und als er daher gieng und auf dem Blatt pfiff, kam ein altes häßliches Mütterchen, das redete ihn an und sprach ‘guten Tag, lieber Jäger, du bist wohl lustig und vergnügt, aber ich leide Hunger und Durst, gib mir doch ein Almosen.’ Da dauerte den Jäger das arme Mütterchen, daß er in seine Tasche griff und ihr nach seinem Vermögen etwas reichte. Nun wollte er weiter gehen, aber die alte Frau hielt ihn an, und sprach ‘höre, lieber Jäger, was ich dir sage, für dein gutes Herz will ich dir ein Geschenk machen: geh nur immer deiner Wege, über ein Weilchen wirst du an einen Baum kommen, darauf sitzen neun Vögel, die haben einen Mantel in den Krallen und raufen sich darum. Da lege du deine Büchse an und schieß mitten drunter: den Mantel werden sie dir wohl fallen lassen, aber auch einer von den Vögeln wird getroffen sein und todt herab stürzen. Den Mantel nimm mit dir, es ist ein Wunschmantel, wenn du ihn um die Schultern wirfst, brauchst du dich nur an einen Ort zu wünschen, und im Augenblick bist du dort. Aus dem todten Vogel nimm das Herz heraus, und verschluck es ganz, dann wirst du allen und jeden Morgen früh beim Aufstehen ein Goldstück unter deinem Kopfkissen finden.’ Der Jäger dankte der weisen Frau und dachte bei sich ‘schöne Dinge, die sie mir versprochen hat, wenns nur auch all so einträfe.’ Doch, wie er etwa hundert Schritte gegangen war, hörte

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 7. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1857, S. 173. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1857/185>, abgerufen am 28.03.2024.