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Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811.

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Was die Natur nach ihrer Unbewußtheit rein und vollen-
det in sich gibt, dasselbe strebt die Kunst frei zu ersetzen 201),
allein unerreichbar steht ihren anfassenden Händen der Gipfel
alter Herrlichkeit, dem sie sich kaum angenaht hat, als sie
schon wieder zurückweichen muß. Wie es zu den Sagenele-
menten gehört, die sich am weitesten ausgebreitet, daß in der
ersten und zweiten That etwas Ungelöstes und Unganzes, hin-
gegen erst in der dritten das Gelingen, gleichsam ein Schluß-
stein, liege; so ist die Trilogie, welche in den meisten Liedern
lebt, in dem Meistergesang aufgegangen. Der deutsche Mei-
stersang, aus dem Schoos der Volkspoesie entsprungen, hat
in der Sonne des Ritterthums geblüht und da feste Gestalt
genommen. Eigenmächtig, wie er sich gebildet, hat er sich
eigenthümlich erhalten. Zwar in Art und Geist ausheimischer
Dichtkunst ähnlich, (weil sich die Natur gleicht auf dem ganzen
Erdboden, und ohne daß man darum Züge und Minnen aus
einander
erklären darf) ist er doch wieder von jeder ver-
schieden, und in seiner gründlichen Darstellung mit nichts ver-

201) Die tiefsinnige Unschuld der Volkspoesie ist mit der großen
indischen Sage vom göttlichen Kind Crischna vergleichbar, dem
die irdische Mutter von ungefähr den Mund öffnet, und in-
wendig in seinem Leib den unermeßlichen Glanz des Himmels
sammt der ganzen Welt erblickt, das Kind aber spielt ruhig
fort und scheint nichts davon zu wissen. -- Diesen Satz von
der Ganzheit der Natur und der Halbheit menschlicher Willkür,
hat auch bei Gelegenheit der griechischen Metrik erkannt Bökh
in seiner Schrift über die Versmaße Pindars, gleich eingangs.
Zuſammengenommenes Reſultat.


Was die Natur nach ihrer Unbewußtheit rein und vollen-
det in ſich gibt, dasſelbe ſtrebt die Kunſt frei zu erſetzen 201),
allein unerreichbar ſteht ihren anfaſſenden Haͤnden der Gipfel
alter Herrlichkeit, dem ſie ſich kaum angenaht hat, als ſie
ſchon wieder zuruͤckweichen muß. Wie es zu den Sagenele-
menten gehoͤrt, die ſich am weiteſten ausgebreitet, daß in der
erſten und zweiten That etwas Ungeloͤſtes und Unganzes, hin-
gegen erſt in der dritten das Gelingen, gleichſam ein Schluß-
ſtein, liege; ſo iſt die Trilogie, welche in den meiſten Liedern
lebt, in dem Meiſtergeſang aufgegangen. Der deutſche Mei-
ſterſang, aus dem Schoos der Volkspoeſie entſprungen, hat
in der Sonne des Ritterthums gebluͤht und da feſte Geſtalt
genommen. Eigenmaͤchtig, wie er ſich gebildet, hat er ſich
eigenthuͤmlich erhalten. Zwar in Art und Geiſt ausheimiſcher
Dichtkunſt aͤhnlich, (weil ſich die Natur gleicht auf dem ganzen
Erdboden, und ohne daß man darum Zuͤge und Minnen aus
einander
erklaͤren darf) iſt er doch wieder von jeder ver-
ſchieden, und in ſeiner gruͤndlichen Darſtellung mit nichts ver-

201) Die tiefſinnige Unſchuld der Volkspoeſie iſt mit der großen
indiſchen Sage vom goͤttlichen Kind Criſchna vergleichbar, dem
die irdiſche Mutter von ungefaͤhr den Mund oͤffnet, und in-
wendig in ſeinem Leib den unermeßlichen Glanz des Himmels
ſammt der ganzen Welt erblickt, das Kind aber ſpielt ruhig
fort und ſcheint nichts davon zu wiſſen. — Dieſen Satz von
der Ganzheit der Natur und der Halbheit menſchlicher Willkuͤr,
hat auch bei Gelegenheit der griechiſchen Metrik erkannt Boͤkh
in ſeiner Schrift uͤber die Versmaße Pindars, gleich eingangs.
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[170/0180] Zuſammengenommenes Reſultat. Was die Natur nach ihrer Unbewußtheit rein und vollen- det in ſich gibt, dasſelbe ſtrebt die Kunſt frei zu erſetzen 201), allein unerreichbar ſteht ihren anfaſſenden Haͤnden der Gipfel alter Herrlichkeit, dem ſie ſich kaum angenaht hat, als ſie ſchon wieder zuruͤckweichen muß. Wie es zu den Sagenele- menten gehoͤrt, die ſich am weiteſten ausgebreitet, daß in der erſten und zweiten That etwas Ungeloͤſtes und Unganzes, hin- gegen erſt in der dritten das Gelingen, gleichſam ein Schluß- ſtein, liege; ſo iſt die Trilogie, welche in den meiſten Liedern lebt, in dem Meiſtergeſang aufgegangen. Der deutſche Mei- ſterſang, aus dem Schoos der Volkspoeſie entſprungen, hat in der Sonne des Ritterthums gebluͤht und da feſte Geſtalt genommen. Eigenmaͤchtig, wie er ſich gebildet, hat er ſich eigenthuͤmlich erhalten. Zwar in Art und Geiſt ausheimiſcher Dichtkunſt aͤhnlich, (weil ſich die Natur gleicht auf dem ganzen Erdboden, und ohne daß man darum Zuͤge und Minnen aus einander erklaͤren darf) iſt er doch wieder von jeder ver- ſchieden, und in ſeiner gruͤndlichen Darſtellung mit nichts ver- 201) Die tiefſinnige Unſchuld der Volkspoeſie iſt mit der großen indiſchen Sage vom goͤttlichen Kind Criſchna vergleichbar, dem die irdiſche Mutter von ungefaͤhr den Mund oͤffnet, und in- wendig in ſeinem Leib den unermeßlichen Glanz des Himmels ſammt der ganzen Welt erblickt, das Kind aber ſpielt ruhig fort und ſcheint nichts davon zu wiſſen. — Dieſen Satz von der Ganzheit der Natur und der Halbheit menſchlicher Willkuͤr, hat auch bei Gelegenheit der griechiſchen Metrik erkannt Boͤkh in ſeiner Schrift uͤber die Versmaße Pindars, gleich eingangs.

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811, S. 170. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_meistergesang_1811/180>, abgerufen am 28.03.2024.