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Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811.

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in der Convenienz der Dichter etwas gegen Nachahmung gele-
gen zu haben. Später, wo diese häufiger geschehen, hielt
man es jederzeit ehrenvoller eigene neue Weisen zu erfinden,
und die bloßen Nachahmer wurden zuletzt durch den Namen
Singer von den Meistern unterschieden.

Inzwischen muß man auch schon in der ersten Zeit einige
Nachahmungen zugestehen. Singen nicht in dem Wartburger
Krieg viele Dichter hinter einander in ein und demselben Ton?
(Ich möchte daraus am wenigsten abnehmen, daß das Gedicht
nur einen Verfasser gehabt.) Ferner, Wolframs Titurelsweise
ist genau von Otto von Turne nachgebildet und nachher von
vielen andern. Walters Lied mit dem Vocalspiel (1. 125.)
haben der Singenberg (1. 157.) und Rudolf der Schreiber (2.
181.) nachgesungen. Wizlan erklärt selbst, daß er die Minne-
weise des Ungelehrten nachsinge. Die von Regenbogen zwischen
Frauenlobs und von Singof zwischen Rumelants interpolirten
Strophen folgen gleichfalls der angegebenen Weise und der Har-
degger (2. 120. 121.) genau dem ersten Ton des Wengen (2. 98.).

Ein Ton Boppos (2. 235.) findet sich mit leisen Aende-
rungen bei Frauenlob, (2. 219.) ja die eine Strophe "Natu-
ren" selber wiederholt; wer nun von beiden Meistern hier ei-
nen Reim ausgelassen oder zugefügt haben mag, genug, die
Abweichung ist sichtlich mit Fleiß hinein gearbeitet worden 97).

97) Wer nicht glauben will, daß eine kleine Abweichung, z. B.
wenn sie Mittelreime zuthut oder wegnimmt, den Ton selbst
nicht geändert habe, überzeuge sich an Reimars Strophe: "die
kluogheit ist" etc. (2. 130.), wo dießmal ein neuer Reim in je-
dem Stollen angezündet wird, der gewöhnlich fehlt. Auch das,
was wir: reiche Reime nennen, darf als Ueberfluß zu dem
Ton hinzu kommen, ohne ihn zu verändern, wie ich beweisen
kann. Etwas ähnliches gilt vom Refrain (referein, von re-
ferre,
oder refloit von reflectere), welcher in Volksliedern,
zwar gewöhnlich am Schluß stehend, doch eigentlich keine be-
stimmte Stelle hat, sondern auch anfangs oder mitten vorkom-
men kann. Daher engl. passend; the overword of the song.

in der Convenienz der Dichter etwas gegen Nachahmung gele-
gen zu haben. Spaͤter, wo dieſe haͤufiger geſchehen, hielt
man es jederzeit ehrenvoller eigene neue Weiſen zu erfinden,
und die bloßen Nachahmer wurden zuletzt durch den Namen
Singer von den Meiſtern unterſchieden.

Inzwiſchen muß man auch ſchon in der erſten Zeit einige
Nachahmungen zugeſtehen. Singen nicht in dem Wartburger
Krieg viele Dichter hinter einander in ein und demſelben Ton?
(Ich moͤchte daraus am wenigſten abnehmen, daß das Gedicht
nur einen Verfaſſer gehabt.) Ferner, Wolframs Titurelsweiſe
iſt genau von Otto von Turne nachgebildet und nachher von
vielen andern. Walters Lied mit dem Vocalſpiel (1. 125.)
haben der Singenberg (1. 157.) und Rudolf der Schreiber (2.
181.) nachgeſungen. Wizlan erklaͤrt ſelbſt, daß er die Minne-
weiſe des Ungelehrten nachſinge. Die von Regenbogen zwiſchen
Frauenlobs und von Singof zwiſchen Rumelants interpolirten
Strophen folgen gleichfalls der angegebenen Weiſe und der Har-
degger (2. 120. 121.) genau dem erſten Ton des Wengen (2. 98.).

Ein Ton Boppos (2. 235.) findet ſich mit leiſen Aende-
rungen bei Frauenlob, (2. 219.) ja die eine Strophe „Natu-
ren“ ſelber wiederholt; wer nun von beiden Meiſtern hier ei-
nen Reim ausgelaſſen oder zugefuͤgt haben mag, genug, die
Abweichung iſt ſichtlich mit Fleiß hinein gearbeitet worden 97).

97) Wer nicht glauben will, daß eine kleine Abweichung, z. B.
wenn ſie Mittelreime zuthut oder wegnimmt, den Ton ſelbſt
nicht geaͤndert habe, uͤberzeuge ſich an Reimars Strophe: „die
kluogheit iſt“ ꝛc. (2. 130.), wo dießmal ein neuer Reim in je-
dem Stollen angezuͤndet wird, der gewoͤhnlich fehlt. Auch das,
was wir: reiche Reime nennen, darf als Ueberfluß zu dem
Ton hinzu kommen, ohne ihn zu veraͤndern, wie ich beweiſen
kann. Etwas aͤhnliches gilt vom Refrain (referein, von re-
ferre,
oder refloit von reflectere), welcher in Volksliedern,
zwar gewoͤhnlich am Schluß ſtehend, doch eigentlich keine be-
ſtimmte Stelle hat, ſondern auch anfangs oder mitten vorkom-
men kann. Daher engl. paſſend; the overword of the ſong.
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[111/0121] in der Convenienz der Dichter etwas gegen Nachahmung gele- gen zu haben. Spaͤter, wo dieſe haͤufiger geſchehen, hielt man es jederzeit ehrenvoller eigene neue Weiſen zu erfinden, und die bloßen Nachahmer wurden zuletzt durch den Namen Singer von den Meiſtern unterſchieden. Inzwiſchen muß man auch ſchon in der erſten Zeit einige Nachahmungen zugeſtehen. Singen nicht in dem Wartburger Krieg viele Dichter hinter einander in ein und demſelben Ton? (Ich moͤchte daraus am wenigſten abnehmen, daß das Gedicht nur einen Verfaſſer gehabt.) Ferner, Wolframs Titurelsweiſe iſt genau von Otto von Turne nachgebildet und nachher von vielen andern. Walters Lied mit dem Vocalſpiel (1. 125.) haben der Singenberg (1. 157.) und Rudolf der Schreiber (2. 181.) nachgeſungen. Wizlan erklaͤrt ſelbſt, daß er die Minne- weiſe des Ungelehrten nachſinge. Die von Regenbogen zwiſchen Frauenlobs und von Singof zwiſchen Rumelants interpolirten Strophen folgen gleichfalls der angegebenen Weiſe und der Har- degger (2. 120. 121.) genau dem erſten Ton des Wengen (2. 98.). Ein Ton Boppos (2. 235.) findet ſich mit leiſen Aende- rungen bei Frauenlob, (2. 219.) ja die eine Strophe „Natu- ren“ ſelber wiederholt; wer nun von beiden Meiſtern hier ei- nen Reim ausgelaſſen oder zugefuͤgt haben mag, genug, die Abweichung iſt ſichtlich mit Fleiß hinein gearbeitet worden 97). 97) Wer nicht glauben will, daß eine kleine Abweichung, z. B. wenn ſie Mittelreime zuthut oder wegnimmt, den Ton ſelbſt nicht geaͤndert habe, uͤberzeuge ſich an Reimars Strophe: „die kluogheit iſt“ ꝛc. (2. 130.), wo dießmal ein neuer Reim in je- dem Stollen angezuͤndet wird, der gewoͤhnlich fehlt. Auch das, was wir: reiche Reime nennen, darf als Ueberfluß zu dem Ton hinzu kommen, ohne ihn zu veraͤndern, wie ich beweiſen kann. Etwas aͤhnliches gilt vom Refrain (referein, von re- ferre, oder refloit von reflectere), welcher in Volksliedern, zwar gewoͤhnlich am Schluß ſtehend, doch eigentlich keine be- ſtimmte Stelle hat, ſondern auch anfangs oder mitten vorkom- men kann. Daher engl. paſſend; the overword of the ſong.

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811, S. 111. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_meistergesang_1811/121>, abgerufen am 25.04.2024.