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Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811.

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bliebe allerdings zu verwundern, daß die Dichter des 13ten
Jahrhunderts (der Chronisten zu geschweigen) seiner ganz ver-
gessen geworden. Indessen frage ich: würden nicht manche mo-
derne Critiker die Sage z. B. des Wartburger Kriegs gera-
dehin verdammt haben, wenn wir sie bloß aus spätern Chro-
niken geschöpft und nicht glücklicher Weise die Streitlieder selbst
gefunden? Denn weder die gleichzeitigen Dichter, noch die
des 14ten Jahrhunderts gedenken dieses Vorfalls, deuten nicht
einmal darauf hin, Wolframs Ausfälle gegen Klinsor im Par-
cisal und Titurel würden in ihrem mythischen Licht unverstan-
den bleiben. Der einzige Herman Damen (XI.) hat eine leise
Anspielung, ohne die, verbürge ich nicht, daß man nicht Klin-
sors 102) ganze persönliche Existenz in Zweifel genommen hätte.
Es ist also auch möglich, daß über jenen älteren Vorfall äl-
tere jetzt verlorene Lieder und Quellen da gewesen sind.

Die Anachronismen in unserer Sage hat schon Spangen-
berg gerügt, und gewiesen, daß ein Klinsor und Frauenlob
nicht zugleich leben können, allein er selbst nimmt keinen An-
stand, den ersteren auf einer Universität studiren zu lassen, die
sogar für den letzteren zu neu wäre 103). Ich weiß gar nicht,
woher ihm diese Notiz kommt, noch weniger, woher die ungleich
wichtigere, zweideutigere: daß die zwölf ersten Dichter aus Mag-
deburg, Osnabrück, Helmstädt, Wirzburg und Mainz her gewe-
sen wären. Ein Umstand, dessen Erklärung vor allem zu wün-
schen ist, denn in dem Hauptpunct leitet den Spangenberg
ein rechtes Gefühl, daß er mit den Namen nicht die Sache
sebst verwirft. Es ist merkwürdig, daß die zwölf Meister gar

102) Gebürtiger Unger scheint er nicht gewesen zu seyn, namhafte deut-
sche Familien führten seinen Namen. An die Namen berühmter
Dichter hat sich von jeher die Fabel gesetzt, z. B. an Virgilius im
Mittelalter, den walischen Merlin, den englischen Thomas, unter
den Deutschen auch noch an Brennenberg und Tanhäuser.
103) Cracau erst 1400 gestiftet. Wolfhart Sp. spricht hier von
Oxonien und Löwen!

bliebe allerdings zu verwundern, daß die Dichter des 13ten
Jahrhunderts (der Chroniſten zu geſchweigen) ſeiner ganz ver-
geſſen geworden. Indeſſen frage ich: wuͤrden nicht manche mo-
derne Critiker die Sage z. B. des Wartburger Kriegs gera-
dehin verdammt haben, wenn wir ſie bloß aus ſpaͤtern Chro-
niken geſchoͤpft und nicht gluͤcklicher Weiſe die Streitlieder ſelbſt
gefunden? Denn weder die gleichzeitigen Dichter, noch die
des 14ten Jahrhunderts gedenken dieſes Vorfalls, deuten nicht
einmal darauf hin, Wolframs Ausfaͤlle gegen Klinſor im Par-
ciſal und Titurel wuͤrden in ihrem mythiſchen Licht unverſtan-
den bleiben. Der einzige Herman Damen (XI.) hat eine leiſe
Anſpielung, ohne die, verbuͤrge ich nicht, daß man nicht Klin-
ſors 102) ganze perſoͤnliche Exiſtenz in Zweifel genommen haͤtte.
Es iſt alſo auch moͤglich, daß uͤber jenen aͤlteren Vorfall aͤl-
tere jetzt verlorene Lieder und Quellen da geweſen ſind.

Die Anachroniſmen in unſerer Sage hat ſchon Spangen-
berg geruͤgt, und gewieſen, daß ein Klinſor und Frauenlob
nicht zugleich leben koͤnnen, allein er ſelbſt nimmt keinen An-
ſtand, den erſteren auf einer Univerſitaͤt ſtudiren zu laſſen, die
ſogar fuͤr den letzteren zu neu waͤre 103). Ich weiß gar nicht,
woher ihm dieſe Notiz kommt, noch weniger, woher die ungleich
wichtigere, zweideutigere: daß die zwoͤlf erſten Dichter aus Mag-
deburg, Osnabruͤck, Helmſtaͤdt, Wirzburg und Mainz her gewe-
ſen waͤren. Ein Umſtand, deſſen Erklaͤrung vor allem zu wuͤn-
ſchen iſt, denn in dem Hauptpunct leitet den Spangenberg
ein rechtes Gefuͤhl, daß er mit den Namen nicht die Sache
ſebſt verwirft. Es iſt merkwuͤrdig, daß die zwoͤlf Meiſter gar

102) Gebuͤrtiger Unger ſcheint er nicht geweſen zu ſeyn, namhafte deut-
ſche Familien fuͤhrten ſeinen Namen. An die Namen beruͤhmter
Dichter hat ſich von jeher die Fabel geſetzt, z. B. an Virgilius im
Mittelalter, den waliſchen Merlin, den engliſchen Thomas, unter
den Deutſchen auch noch an Brennenberg und Tanhaͤuſer.
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Oxonien und Loͤwen!
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[117/0127] bliebe allerdings zu verwundern, daß die Dichter des 13ten Jahrhunderts (der Chroniſten zu geſchweigen) ſeiner ganz ver- geſſen geworden. Indeſſen frage ich: wuͤrden nicht manche mo- derne Critiker die Sage z. B. des Wartburger Kriegs gera- dehin verdammt haben, wenn wir ſie bloß aus ſpaͤtern Chro- niken geſchoͤpft und nicht gluͤcklicher Weiſe die Streitlieder ſelbſt gefunden? Denn weder die gleichzeitigen Dichter, noch die des 14ten Jahrhunderts gedenken dieſes Vorfalls, deuten nicht einmal darauf hin, Wolframs Ausfaͤlle gegen Klinſor im Par- ciſal und Titurel wuͤrden in ihrem mythiſchen Licht unverſtan- den bleiben. Der einzige Herman Damen (XI.) hat eine leiſe Anſpielung, ohne die, verbuͤrge ich nicht, daß man nicht Klin- ſors 102) ganze perſoͤnliche Exiſtenz in Zweifel genommen haͤtte. Es iſt alſo auch moͤglich, daß uͤber jenen aͤlteren Vorfall aͤl- tere jetzt verlorene Lieder und Quellen da geweſen ſind. Die Anachroniſmen in unſerer Sage hat ſchon Spangen- berg geruͤgt, und gewieſen, daß ein Klinſor und Frauenlob nicht zugleich leben koͤnnen, allein er ſelbſt nimmt keinen An- ſtand, den erſteren auf einer Univerſitaͤt ſtudiren zu laſſen, die ſogar fuͤr den letzteren zu neu waͤre 103). Ich weiß gar nicht, woher ihm dieſe Notiz kommt, noch weniger, woher die ungleich wichtigere, zweideutigere: daß die zwoͤlf erſten Dichter aus Mag- deburg, Osnabruͤck, Helmſtaͤdt, Wirzburg und Mainz her gewe- ſen waͤren. Ein Umſtand, deſſen Erklaͤrung vor allem zu wuͤn- ſchen iſt, denn in dem Hauptpunct leitet den Spangenberg ein rechtes Gefuͤhl, daß er mit den Namen nicht die Sache ſebſt verwirft. Es iſt merkwuͤrdig, daß die zwoͤlf Meiſter gar 102) Gebuͤrtiger Unger ſcheint er nicht geweſen zu ſeyn, namhafte deut- ſche Familien fuͤhrten ſeinen Namen. An die Namen beruͤhmter Dichter hat ſich von jeher die Fabel geſetzt, z. B. an Virgilius im Mittelalter, den waliſchen Merlin, den engliſchen Thomas, unter den Deutſchen auch noch an Brennenberg und Tanhaͤuſer. 103) Cracau erſt 1400 geſtiftet. Wolfhart Sp. ſpricht hier von Oxonien und Loͤwen!

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811, S. 117. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_meistergesang_1811/127>, abgerufen am 25.04.2024.