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Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811.

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schon persönlich ab 122). Die Meister lebten an den Höfen,
gleich den Spielleuten, aber sie drängten diese fast weg. Ge-
sellschaftliches behielten sie auch von jenen bei. Andrerseits
gingen ihre Weisen von dem natürlichen Princip aus, das
auch in dem Gewächs der Volkspoesie liegt, sie aber trieben
es mit Absicht und endlich tödtender Gewalt in alle Aeste und
Zweige 123). Die Volkspoesie ist mithin wie im Leben, so
auch in sich selbst vom Meistergesang geschieden, bestand jedoch
immer neben dem letztern und überlebte ihn bei weitem. Die
alten Meister achten solche Sänger gering und mögen ihre
Mißgunst sogar auf den Gegenstand alter Volksdichtung über-
tragen haben 124), welche sie bäurisch im Gegensatz zu ihrer
höflichen zu nennen pflegen 125).


122) An dem Gegensatz zwischen Volkspoesie und Meistergesang habe
ich nie gezweifelt, sehe also nicht ab, warum mir Docen S. 457
zu verstehen geben will, daß außer letzterem auch noch etwas
anderes bestanden habe. Die Stelle aus den annal. domin. ist
mithin ganz klar; möchte er dafür deren Quelle, die größere
Stelle aus der Limburg. Chronik erklärt haben, worin mir ganz
unverständlich ist, daß die Lieder mit 3 Gesetzen erst 1360. auf-
gekommen seyn sollen. Das ist so falsch, daß es nicht einmal
eines widerlegenden Beispiels bedarf. Und das Wort Wider-
sanc steht schon bei Vogelweide 1. 123.
123) Das Verhältniß des Meistergesangs zur Volkspoesie läßt sich
folglich in der Kürze so angeben: in der letzten liegt der unter-
schiedene dritte Theil fast bloß in Melodie und Begleitung, in-
den Meisterliedern ist er nothwendig äußerlich in die Worte
getreten.
124) Denn sie haben vermieden, sie zu bearbeiten, worüber man
nur Rud. v. Montf. Stelle im Orlenz und Püterichs Catalog
nachsehe. Marners Strophe 2. 176. kann leicht so ausgelegt
werden, daß sie nicht widerspricht.
125) Daher steht noch in spätern Chroniken über Dieterich v. Bern:
"von dem die Bauern singent." Im Gegensatz redet noch
Ambros. Metzger im 27ten Jahrhundert verschiedentlich von der
adelichen Kunst des Meistersangs, der er sich beflissen.

ſchon perſoͤnlich ab 122). Die Meiſter lebten an den Hoͤfen,
gleich den Spielleuten, aber ſie draͤngten dieſe faſt weg. Ge-
ſellſchaftliches behielten ſie auch von jenen bei. Andrerſeits
gingen ihre Weiſen von dem natuͤrlichen Princip aus, das
auch in dem Gewaͤchs der Volkspoeſie liegt, ſie aber trieben
es mit Abſicht und endlich toͤdtender Gewalt in alle Aeſte und
Zweige 123). Die Volkspoeſie iſt mithin wie im Leben, ſo
auch in ſich ſelbſt vom Meiſtergeſang geſchieden, beſtand jedoch
immer neben dem letztern und uͤberlebte ihn bei weitem. Die
alten Meiſter achten ſolche Saͤnger gering und moͤgen ihre
Mißgunſt ſogar auf den Gegenſtand alter Volksdichtung uͤber-
tragen haben 124), welche ſie baͤuriſch im Gegenſatz zu ihrer
hoͤflichen zu nennen pflegen 125).


122) An dem Gegenſatz zwiſchen Volkspoeſie und Meiſtergeſang habe
ich nie gezweifelt, ſehe alſo nicht ab, warum mir Docen S. 457
zu verſtehen geben will, daß außer letzterem auch noch etwas
anderes beſtanden habe. Die Stelle aus den annal. domin. iſt
mithin ganz klar; moͤchte er dafuͤr deren Quelle, die groͤßere
Stelle aus der Limburg. Chronik erklaͤrt haben, worin mir ganz
unverſtaͤndlich iſt, daß die Lieder mit 3 Geſetzen erſt 1360. auf-
gekommen ſeyn ſollen. Das iſt ſo falſch, daß es nicht einmal
eines widerlegenden Beiſpiels bedarf. Und das Wort Wider-
ſanc ſteht ſchon bei Vogelweide 1. 123.
123) Das Verhaͤltniß des Meiſtergeſangs zur Volkspoeſie laͤßt ſich
folglich in der Kuͤrze ſo angeben: in der letzten liegt der unter-
ſchiedene dritte Theil faſt bloß in Melodie und Begleitung, in-
den Meiſterliedern iſt er nothwendig aͤußerlich in die Worte
getreten.
124) Denn ſie haben vermieden, ſie zu bearbeiten, woruͤber man
nur Rud. v. Montf. Stelle im Orlenz und Puͤterichs Catalog
nachſehe. Marners Strophe 2. 176. kann leicht ſo ausgelegt
werden, daß ſie nicht widerſpricht.
125) Daher ſteht noch in ſpaͤtern Chroniken uͤber Dieterich v. Bern:
„von dem die Bauern ſingent.“ Im Gegenſatz redet noch
Ambroſ. Metzger im 27ten Jahrhundert verſchiedentlich von der
adelichen Kunſt des Meiſterſangs, der er ſich befliſſen.
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[133/0143] ſchon perſoͤnlich ab 122). Die Meiſter lebten an den Hoͤfen, gleich den Spielleuten, aber ſie draͤngten dieſe faſt weg. Ge- ſellſchaftliches behielten ſie auch von jenen bei. Andrerſeits gingen ihre Weiſen von dem natuͤrlichen Princip aus, das auch in dem Gewaͤchs der Volkspoeſie liegt, ſie aber trieben es mit Abſicht und endlich toͤdtender Gewalt in alle Aeſte und Zweige 123). Die Volkspoeſie iſt mithin wie im Leben, ſo auch in ſich ſelbſt vom Meiſtergeſang geſchieden, beſtand jedoch immer neben dem letztern und uͤberlebte ihn bei weitem. Die alten Meiſter achten ſolche Saͤnger gering und moͤgen ihre Mißgunſt ſogar auf den Gegenſtand alter Volksdichtung uͤber- tragen haben 124), welche ſie baͤuriſch im Gegenſatz zu ihrer hoͤflichen zu nennen pflegen 125). 122) An dem Gegenſatz zwiſchen Volkspoeſie und Meiſtergeſang habe ich nie gezweifelt, ſehe alſo nicht ab, warum mir Docen S. 457 zu verſtehen geben will, daß außer letzterem auch noch etwas anderes beſtanden habe. Die Stelle aus den annal. domin. iſt mithin ganz klar; moͤchte er dafuͤr deren Quelle, die groͤßere Stelle aus der Limburg. Chronik erklaͤrt haben, worin mir ganz unverſtaͤndlich iſt, daß die Lieder mit 3 Geſetzen erſt 1360. auf- gekommen ſeyn ſollen. Das iſt ſo falſch, daß es nicht einmal eines widerlegenden Beiſpiels bedarf. Und das Wort Wider- ſanc ſteht ſchon bei Vogelweide 1. 123. 123) Das Verhaͤltniß des Meiſtergeſangs zur Volkspoeſie laͤßt ſich folglich in der Kuͤrze ſo angeben: in der letzten liegt der unter- ſchiedene dritte Theil faſt bloß in Melodie und Begleitung, in- den Meiſterliedern iſt er nothwendig aͤußerlich in die Worte getreten. 124) Denn ſie haben vermieden, ſie zu bearbeiten, woruͤber man nur Rud. v. Montf. Stelle im Orlenz und Puͤterichs Catalog nachſehe. Marners Strophe 2. 176. kann leicht ſo ausgelegt werden, daß ſie nicht widerſpricht. 125) Daher ſteht noch in ſpaͤtern Chroniken uͤber Dieterich v. Bern: „von dem die Bauern ſingent.“ Im Gegenſatz redet noch Ambroſ. Metzger im 27ten Jahrhundert verſchiedentlich von der adelichen Kunſt des Meiſterſangs, der er ſich befliſſen.

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811, S. 133. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_meistergesang_1811/143>, abgerufen am 24.04.2024.