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Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811.

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Künstlichkeit, daß die Reime in zwei oder mehr Strophen
dieselben bleiben, besonders häufig an, welchen Fall man bei
deutschen Dichtern wenig suchen dürste 144).

Viel deutlicher reden provenzalische Sitte und Dichterge-
brauch. Es sind zwar ebenfalls Hof- und Ritterdichter aus
allen Ständen, selbst aus dem bürgerlichen 145) meist wieder
dem armen Adel, während der reiche nur seine vorübergehende,
kurze Lust damit hatte. Allein welche Verschiedenheiten erge-
ben sich in folgenden Puncten von aller deutschen Gewohnheit.

1) Der Name troubadour, so wie das Zeitwort, dem er
entspricht, trovar, für Dichter und Dichten sind höchst be-
zeichnend, um die ritterlichen Sänger von den gemeinen des
Volks zu unterscheiden. Diese Namen, oder eine Ueber-
setzung davon scheinen damals in Deutschland unerhört 146),

Auflösung des Abgesangs für sich in zwei gleiche Theile, worin
allerdings etwas unbefriedigendes, so daß sich schon italienische
Dichter (wohl darum) Freiheiten damit erlaubt haben. Der
Bau der Octavreime mag im Vorlesen von großer Wirkung
seyn, aber etwas unsangbares tragen sie an sich, welches sicher
wegfiele, wo sie zwei Zeilen weniger hätten. Terzinen sind auch
bloß zum Lesen und die Sestinen meist ein kalter Reimmißbrauch.
Der Ballaten und Madrigale zu geschweigen, die außerdem
sehr verschieden vorkommen.
144) Das einzig mir beifallende Lied, worin etwas dergleichen vor-
kommt, ist das erste des tugendh. Schreib. 2. 101., wo der
Reim ere in allen 5 Str. wieder kehrt, so jedoch, daß er in
der zweiten und vierten die erste Zeile des Stollen, in den
übrigen die zweite besetzt.
145) Um nur berühmte zu nennen: Pierre Vidal und Faidit.
146) Bloß bei Gettfried von Straßburg im Tristan 18962 und 66.
steht "vant" in einer solchen Bedeutung, allein gerade hier ist
eine dirccte Uebersetzung aus dem Provenzalischen (lamparti-
schen) nicht zu bezweifeln. Cf. Oberlin v. Orthaber. Andrer-
seits liegt der Gebrauch des Worts den germanischen Sprachen
selbst nah genug und Egil singt: thuiat hrodr of fann.

Kuͤnſtlichkeit, daß die Reime in zwei oder mehr Strophen
dieſelben bleiben, beſonders haͤufig an, welchen Fall man bei
deutſchen Dichtern wenig ſuchen duͤrſte 144).

Viel deutlicher reden provenzaliſche Sitte und Dichterge-
brauch. Es ſind zwar ebenfalls Hof- und Ritterdichter aus
allen Staͤnden, ſelbſt aus dem buͤrgerlichen 145) meiſt wieder
dem armen Adel, waͤhrend der reiche nur ſeine voruͤbergehende,
kurze Luſt damit hatte. Allein welche Verſchiedenheiten erge-
ben ſich in folgenden Puncten von aller deutſchen Gewohnheit.

1) Der Name troubadour, ſo wie das Zeitwort, dem er
entſpricht, trovar, fuͤr Dichter und Dichten ſind hoͤchſt be-
zeichnend, um die ritterlichen Saͤnger von den gemeinen des
Volks zu unterſcheiden. Dieſe Namen, oder eine Ueber-
ſetzung davon ſcheinen damals in Deutſchland unerhoͤrt 146),

Aufloͤſung des Abgeſangs fuͤr ſich in zwei gleiche Theile, worin
allerdings etwas unbefriedigendes, ſo daß ſich ſchon italieniſche
Dichter (wohl darum) Freiheiten damit erlaubt haben. Der
Bau der Octavreime mag im Vorleſen von großer Wirkung
ſeyn, aber etwas unſangbares tragen ſie an ſich, welches ſicher
wegfiele, wo ſie zwei Zeilen weniger haͤtten. Terzinen ſind auch
bloß zum Leſen und die Seſtinen meiſt ein kalter Reimmißbrauch.
Der Ballaten und Madrigale zu geſchweigen, die außerdem
ſehr verſchieden vorkommen.
144) Das einzig mir beifallende Lied, worin etwas dergleichen vor-
kommt, iſt das erſte des tugendh. Schreib. 2. 101., wo der
Reim ere in allen 5 Str. wieder kehrt, ſo jedoch, daß er in
der zweiten und vierten die erſte Zeile des Stollen, in den
uͤbrigen die zweite beſetzt.
145) Um nur beruͤhmte zu nennen: Pierre Vidal und Faidit.
146) Bloß bei Gettfried von Straßburg im Triſtan 18962 und 66.
ſteht „vant“ in einer ſolchen Bedeutung, allein gerade hier iſt
eine dirccte Ueberſetzung aus dem Provenzaliſchen (lamparti-
ſchen) nicht zu bezweifeln. Cf. Oberlin v. Orthaber. Andrer-
ſeits liegt der Gebrauch des Worts den germaniſchen Sprachen
ſelbſt nah genug und Egil ſingt: thuiat hrodr of fann.
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[144/0154] Kuͤnſtlichkeit, daß die Reime in zwei oder mehr Strophen dieſelben bleiben, beſonders haͤufig an, welchen Fall man bei deutſchen Dichtern wenig ſuchen duͤrſte 144). Viel deutlicher reden provenzaliſche Sitte und Dichterge- brauch. Es ſind zwar ebenfalls Hof- und Ritterdichter aus allen Staͤnden, ſelbſt aus dem buͤrgerlichen 145) meiſt wieder dem armen Adel, waͤhrend der reiche nur ſeine voruͤbergehende, kurze Luſt damit hatte. Allein welche Verſchiedenheiten erge- ben ſich in folgenden Puncten von aller deutſchen Gewohnheit. 1) Der Name troubadour, ſo wie das Zeitwort, dem er entſpricht, trovar, fuͤr Dichter und Dichten ſind hoͤchſt be- zeichnend, um die ritterlichen Saͤnger von den gemeinen des Volks zu unterſcheiden. Dieſe Namen, oder eine Ueber- ſetzung davon ſcheinen damals in Deutſchland unerhoͤrt 146), 143) 144) Das einzig mir beifallende Lied, worin etwas dergleichen vor- kommt, iſt das erſte des tugendh. Schreib. 2. 101., wo der Reim ere in allen 5 Str. wieder kehrt, ſo jedoch, daß er in der zweiten und vierten die erſte Zeile des Stollen, in den uͤbrigen die zweite beſetzt. 145) Um nur beruͤhmte zu nennen: Pierre Vidal und Faidit. 146) Bloß bei Gettfried von Straßburg im Triſtan 18962 und 66. ſteht „vant“ in einer ſolchen Bedeutung, allein gerade hier iſt eine dirccte Ueberſetzung aus dem Provenzaliſchen (lamparti- ſchen) nicht zu bezweifeln. Cf. Oberlin v. Orthaber. Andrer- ſeits liegt der Gebrauch des Worts den germaniſchen Sprachen ſelbſt nah genug und Egil ſingt: thuiat hrodr of fann. 143) Aufloͤſung des Abgeſangs fuͤr ſich in zwei gleiche Theile, worin allerdings etwas unbefriedigendes, ſo daß ſich ſchon italieniſche Dichter (wohl darum) Freiheiten damit erlaubt haben. Der Bau der Octavreime mag im Vorleſen von großer Wirkung ſeyn, aber etwas unſangbares tragen ſie an ſich, welches ſicher wegfiele, wo ſie zwei Zeilen weniger haͤtten. Terzinen ſind auch bloß zum Leſen und die Seſtinen meiſt ein kalter Reimmißbrauch. Der Ballaten und Madrigale zu geſchweigen, die außerdem ſehr verſchieden vorkommen.

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811, S. 144. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_meistergesang_1811/154>, abgerufen am 28.03.2024.