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Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811.

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als in ihrem Dienst betrachteten und ihnen alle Begeisterung
zur Kunst beilegten 153).

4) Die freiere Sitte provenzalischer Damen vertrug es
nicht bloß, daß sie an den Liebeshöfen richteten und Urtheil
sprachen, sondern daß sie auch selber Lieder dichteten und öf-
fentlich sangen 154). Wir hören aber nie von einer Meiste-
rinn, als wider alle deutsche Zucht 155). Da, wo im Dich-
ten eine eitele Ursache liegt, ist schon ein Hauch auf die Rein-
heit der Poesie gekommen, diese wohnet in den Frauen, al-
lein sie sollen sie nicht öffentlich aussprechen, so wenig als sie
Krieg ziehen sollen. In einigen Minneliedern, wo Wei-
ber reden, ist es unzweifelhaft, daß sie von dem Dichter selbst
gesungen worden, unter dessen Namen sie stehen; man ver-
gleiche: Reinmar 1. 61. (st koment etc.) 1. 81. (wa von solt etc.)
Milon 1. 97. (ich han vernomen etc.) Wachsmut 1. 178. (junc-
herre etc.) Hartmann 1. 181. (ob man mit etc.) 1. 183. (dis
weren etc.) In andern sind Gespräche der Ritter mit ihren
Frauen, wie sie wirklich vorgegangen seyn können und die sie
nachher in Gedichte verfaßten. Johansdorf 1. 176. (ich vant
si etc.) Trosberg 2. 53. (willekomen etc.) Steinmar 2. 108.
(du vil liebe etc.) und das schöne Lied Hawarts 2. 111, wo die
Frau dem Ritter wohl Redegesellinn seyn will, wenn es ihrer
Ehre nicht schade, und wo sie ihm Fragen über die Minne
thut, welche an ähnliche Stellen bei Lichtenstein und im Ti-
turel erinnern. Am Schluß eines Gesangs des Hug von Wer-

153) Walter v. V. W. sehr zierlich:
"swelche schone vrowe mir danne gabe ir habedank.
der lies ich gilien und rosen us ir wengel schinen."
154) Beispiele: Azalais de Porcairague, Donna Castelloza, Clara
d'Anduse, comtesse de Provence, comtesse de Die, Natibors.
155) Walter singt (1. 119.), er habe viel Lande gesehen, in dent-
schen aber seyen die Weiher als Engel gethan, "tiutschin zuht
gat vor allen."
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als in ihrem Dienſt betrachteten und ihnen alle Begeiſterung
zur Kunſt beilegten 153).

4) Die freiere Sitte provenzaliſcher Damen vertrug es
nicht bloß, daß ſie an den Liebeshoͤfen richteten und Urtheil
ſprachen, ſondern daß ſie auch ſelber Lieder dichteten und oͤf-
fentlich ſangen 154). Wir hoͤren aber nie von einer Meiſte-
rinn, als wider alle deutſche Zucht 155). Da, wo im Dich-
ten eine eitele Urſache liegt, iſt ſchon ein Hauch auf die Rein-
heit der Poeſie gekommen, dieſe wohnet in den Frauen, al-
lein ſie ſollen ſie nicht oͤffentlich ausſprechen, ſo wenig als ſie
Krieg ziehen ſollen. In einigen Minneliedern, wo Wei-
ber reden, iſt es unzweifelhaft, daß ſie von dem Dichter ſelbſt
geſungen worden, unter deſſen Namen ſie ſtehen; man ver-
gleiche: Reinmar 1. 61. (ſt koment ꝛc.) 1. 81. (wa von ſolt ꝛc.)
Milon 1. 97. (ich han vernomen ꝛc.) Wachsmut 1. 178. (junc-
herre ꝛc.) Hartmann 1. 181. (ob man mit ꝛc.) 1. 183. (dis
weren ꝛc.) In andern ſind Geſpraͤche der Ritter mit ihren
Frauen, wie ſie wirklich vorgegangen ſeyn koͤnnen und die ſie
nachher in Gedichte verfaßten. Johansdorf 1. 176. (ich vant
ſi ꝛc.) Trosberg 2. 53. (willekomen ꝛc.) Steinmar 2. 108.
(du vil liebe ꝛc.) und das ſchoͤne Lied Hawarts 2. 111, wo die
Frau dem Ritter wohl Redegeſellinn ſeyn will, wenn es ihrer
Ehre nicht ſchade, und wo ſie ihm Fragen uͤber die Minne
thut, welche an aͤhnliche Stellen bei Lichtenſtein und im Ti-
turel erinnern. Am Schluß eines Geſangs des Hug von Wer-

153) Walter v. V. W. ſehr zierlich:
„ſwelche ſchone vrowe mir danne gabe ir habedank.
der lies ich gilien und roſen us ir wengel ſchinen.“
154) Beiſpiele: Azalais de Porcairague, Donna Castelloza, Clara
d’Anduse, comtesse de Provence, comtesse de Die, Natibors.
155) Walter ſingt (1. 119.), er habe viel Lande geſehen, in dent-
ſchen aber ſeyen die Weiher als Engel gethan, „tiutſchin zuht
gât vor allen.“
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[147/0157] als in ihrem Dienſt betrachteten und ihnen alle Begeiſterung zur Kunſt beilegten 153). 4) Die freiere Sitte provenzaliſcher Damen vertrug es nicht bloß, daß ſie an den Liebeshoͤfen richteten und Urtheil ſprachen, ſondern daß ſie auch ſelber Lieder dichteten und oͤf- fentlich ſangen 154). Wir hoͤren aber nie von einer Meiſte- rinn, als wider alle deutſche Zucht 155). Da, wo im Dich- ten eine eitele Urſache liegt, iſt ſchon ein Hauch auf die Rein- heit der Poeſie gekommen, dieſe wohnet in den Frauen, al- lein ſie ſollen ſie nicht oͤffentlich ausſprechen, ſo wenig als ſie Krieg ziehen ſollen. In einigen Minneliedern, wo Wei- ber reden, iſt es unzweifelhaft, daß ſie von dem Dichter ſelbſt geſungen worden, unter deſſen Namen ſie ſtehen; man ver- gleiche: Reinmar 1. 61. (ſt koment ꝛc.) 1. 81. (wa von ſolt ꝛc.) Milon 1. 97. (ich han vernomen ꝛc.) Wachsmut 1. 178. (junc- herre ꝛc.) Hartmann 1. 181. (ob man mit ꝛc.) 1. 183. (dis weren ꝛc.) In andern ſind Geſpraͤche der Ritter mit ihren Frauen, wie ſie wirklich vorgegangen ſeyn koͤnnen und die ſie nachher in Gedichte verfaßten. Johansdorf 1. 176. (ich vant ſi ꝛc.) Trosberg 2. 53. (willekomen ꝛc.) Steinmar 2. 108. (du vil liebe ꝛc.) und das ſchoͤne Lied Hawarts 2. 111, wo die Frau dem Ritter wohl Redegeſellinn ſeyn will, wenn es ihrer Ehre nicht ſchade, und wo ſie ihm Fragen uͤber die Minne thut, welche an aͤhnliche Stellen bei Lichtenſtein und im Ti- turel erinnern. Am Schluß eines Geſangs des Hug von Wer- 153) Walter v. V. W. ſehr zierlich: „ſwelche ſchone vrowe mir danne gabe ir habedank. der lies ich gilien und roſen us ir wengel ſchinen.“ 154) Beiſpiele: Azalais de Porcairague, Donna Castelloza, Clara d’Anduse, comtesse de Provence, comtesse de Die, Natibors. 155) Walter ſingt (1. 119.), er habe viel Lande geſehen, in dent- ſchen aber ſeyen die Weiher als Engel gethan, „tiutſchin zuht gât vor allen.“ K 2

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811, S. 147. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_meistergesang_1811/157>, abgerufen am 29.03.2024.