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Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811.

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Vermuthlich gab es in ganz Deutschland von Anfang bis zu
Ende nicht so viel Meister, als in dem verhältnißmäßig klei-
nen Bezirk der Niederlande zugleich auf einmal Rhetoriker. Im
Jahr 1561. kamen ihrer bloß aus eilf Städten 1473 zu Pferd
nach Antwerpen geritten; später muß es noch zugenommen
haben, indem Kops, nicht einmal vollständige, Liste 200 Cam-
mern namhaft macht.

Zum Ueberfluß, daß eine Reimanstalt, die nur in einigen
Lustspielen an das Poetische streifte, nicht aus unserer Mitte
gekommen ist, beweise ich damit: wie unser Meistergesang
nicht im nördlichen, Holland angrenzenden, Deutschland gefun-
den wird, so haben andererseits die an uns liegenden Provinzen
Geldern und Friesland keine Rhetoriker gehabt, welche auf
Holland, Seeland und Brabant eingeschränkt blieben.

IV. Norden.

Eine erfreulichere und in allem gleich den kraftvollen Ur-
sprung verrathende Kunstpoesie ist in Scandinavien. Wir er-
kennen, wie in Deutschland, ein gleiches Verhältniß zu der
daneben bestehenden Volkspoesie, und dürfen es auch historisch
fast eben so erklären. Die späteren Sagas unterscheiden ge-
nau die "leikara, harpara, gigiara und fithlara" 182) von
den kunstdichtenden Scalden 183), die auch hier an den Höfen

182) Ynglinga S. Cap. 25. Die alten und volksmäßigen Lieder schei-
nen daher vorzugsweise, und im Gegensatz der Skaldenviser
Slag oder Hliod geheißen zu haben. Merkwürdige nament-
liche Beispiele in der Nornagesturs Saga Cap. 2, in der Her-
rauds og Bose S. Cap. 11. Seite 50.
183) Hauptschrift, bis der dritte Theil der Edda (Liodsgreinir) ge-
druckt seyn wird, ist: Om Nordens gamle Digtekonst, ved John
Olassen. Kiobenh. 1786. 4. Grabergs neue Abh. über die Scal-
den (im 2ten Band der Atti della academia italiana) ist mir
noch nicht zugekommen.

Vermuthlich gab es in ganz Deutſchland von Anfang bis zu
Ende nicht ſo viel Meiſter, als in dem verhaͤltnißmaͤßig klei-
nen Bezirk der Niederlande zugleich auf einmal Rhetoriker. Im
Jahr 1561. kamen ihrer bloß aus eilf Staͤdten 1473 zu Pferd
nach Antwerpen geritten; ſpaͤter muß es noch zugenommen
haben, indem Kops, nicht einmal vollſtaͤndige, Liſte 200 Cam-
mern namhaft macht.

Zum Ueberfluß, daß eine Reimanſtalt, die nur in einigen
Luſtſpielen an das Poetiſche ſtreifte, nicht aus unſerer Mitte
gekommen iſt, beweiſe ich damit: wie unſer Meiſtergeſang
nicht im noͤrdlichen, Holland angrenzenden, Deutſchland gefun-
den wird, ſo haben andererſeits die an uns liegenden Provinzen
Geldern und Friesland keine Rhetoriker gehabt, welche auf
Holland, Seeland und Brabant eingeſchraͤnkt blieben.

IV. Norden.

Eine erfreulichere und in allem gleich den kraftvollen Ur-
ſprung verrathende Kunſtpoeſie iſt in Scandinavien. Wir er-
kennen, wie in Deutſchland, ein gleiches Verhaͤltniß zu der
daneben beſtehenden Volkspoeſie, und duͤrfen es auch hiſtoriſch
faſt eben ſo erklaͤren. Die ſpaͤteren Sagas unterſcheiden ge-
nau die „leikara, harpara, gigiara und fithlara“ 182) von
den kunſtdichtenden Scalden 183), die auch hier an den Hoͤfen

182) Ynglinga S. Cap. 25. Die alten und volksmaͤßigen Lieder ſchei-
nen daher vorzugsweiſe, und im Gegenſatz der Skaldenviſer
Slag oder Hliod geheißen zu haben. Merkwuͤrdige nament-
liche Beiſpiele in der Nornageſturs Saga Cap. 2, in der Her-
rauds og Boſe S. Cap. 11. Seite 50.
183) Hauptſchrift, bis der dritte Theil der Edda (Liodsgreinir) ge-
druckt ſeyn wird, iſt: Om Nordens gamle Digtekonſt, ved John
Olaſſen. Kiobenh. 1786. 4. Grabergs neue Abh. uͤber die Scal-
den (im 2ten Band der Atti della academia italiana) iſt mir
noch nicht zugekommen.
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[160/0170] Vermuthlich gab es in ganz Deutſchland von Anfang bis zu Ende nicht ſo viel Meiſter, als in dem verhaͤltnißmaͤßig klei- nen Bezirk der Niederlande zugleich auf einmal Rhetoriker. Im Jahr 1561. kamen ihrer bloß aus eilf Staͤdten 1473 zu Pferd nach Antwerpen geritten; ſpaͤter muß es noch zugenommen haben, indem Kops, nicht einmal vollſtaͤndige, Liſte 200 Cam- mern namhaft macht. Zum Ueberfluß, daß eine Reimanſtalt, die nur in einigen Luſtſpielen an das Poetiſche ſtreifte, nicht aus unſerer Mitte gekommen iſt, beweiſe ich damit: wie unſer Meiſtergeſang nicht im noͤrdlichen, Holland angrenzenden, Deutſchland gefun- den wird, ſo haben andererſeits die an uns liegenden Provinzen Geldern und Friesland keine Rhetoriker gehabt, welche auf Holland, Seeland und Brabant eingeſchraͤnkt blieben. IV. Norden. Eine erfreulichere und in allem gleich den kraftvollen Ur- ſprung verrathende Kunſtpoeſie iſt in Scandinavien. Wir er- kennen, wie in Deutſchland, ein gleiches Verhaͤltniß zu der daneben beſtehenden Volkspoeſie, und duͤrfen es auch hiſtoriſch faſt eben ſo erklaͤren. Die ſpaͤteren Sagas unterſcheiden ge- nau die „leikara, harpara, gigiara und fithlara“ 182) von den kunſtdichtenden Scalden 183), die auch hier an den Hoͤfen 182) Ynglinga S. Cap. 25. Die alten und volksmaͤßigen Lieder ſchei- nen daher vorzugsweiſe, und im Gegenſatz der Skaldenviſer Slag oder Hliod geheißen zu haben. Merkwuͤrdige nament- liche Beiſpiele in der Nornageſturs Saga Cap. 2, in der Her- rauds og Boſe S. Cap. 11. Seite 50. 183) Hauptſchrift, bis der dritte Theil der Edda (Liodsgreinir) ge- druckt ſeyn wird, iſt: Om Nordens gamle Digtekonſt, ved John Olaſſen. Kiobenh. 1786. 4. Grabergs neue Abh. uͤber die Scal- den (im 2ten Band der Atti della academia italiana) iſt mir noch nicht zugekommen.

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811, S. 160. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_meistergesang_1811/170>, abgerufen am 28.03.2024.