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Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811.

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das Uebergewicht erlangten. An einen Zusammenhang, oder
nur Einfluß ihrer Kunst auf den altdeutschen Meistersang ist
aber nicht zu glauben.

1) In der nordischen uralten wie in der Scaldenpoesie gilt
die Alliteration 184) herrschend und unsere Reime fehlen. Erst

184) Wenn es erlaubt ist, Gleichnisse für eine Sache zu versuchen,
die uns zu lange aus Erfahrung und Beispiel herausgerückt ge-
wesen ist, so kann man sich das Wesen der an- und eintönen-
den Alliteration von dem austönenden Reim so erklären, daß
in diesem ein allgemein musikalisches Princip, in jener das der
Menschensprache vorwaltet. Der Reim ist ein fließendes, in
sich selber klingendes Wasser, die Alliteration, das Einschneiden
des Schiffs, dessen Ruderschlag; oder, der Reim ist das We-
sen der Lust, die Alliteration die Stimme der Blätter, woran
der Wind streicht, daher in ihr etwas eigen heimisches und er-
greifendes. Daher werden auch alle Interjectionen, sobald sie
aus den, so zu sagen stummen, Lust- und Schmerzenslauten
in das Menschlichbewegende gehen, alliterirend, wie die kindli-
chen Liebkosungen. Aus allem dem, und den Spuren, worin
sie sich von orientalischer Poesie (ja vom griechischen Augment)
an bis in unsere Sprichwörter und Nachsprechespiele zeigt, er-
gibt sich das unerdichtete, der menschlichen Natur nahliegende
Element der Alliteration. Zwei große Vortheile hat sie vor
dem Reim voraus, die Bedeutsamkeit, indem sie nur sinnwich-
tige Wörter ergreift und mit dem Accent der Sprache aufs in-
nigste zusammenstimmt, daher ihre Bestandtheile mit Recht die
Stäbe des Lieds (hliodstafir, Liedstaben), dessen Seele sie aus-
machen, genannt werden; -- dann die Beweglichkeit, indem
sie in der Zeile an keine Stelle gebunden ist, während der Reim
das Schlußwort der Zeile halten muß. So wie jene Innigkeit
des Accents mit dem Sinn der Worte und der genaue Schritt,
den wieder das alliterirende Metrum damit hält, ein köstlicher,
nicht gehörig erkannter Vorzug der germanischen Sprachen ist;
so erreicht andererseits die Alliteration fast die innere Freiheit
griechischer Rhythmen. Aus beiden Gründen mochte man in
dem Reimprincip zum Theil etwas Undcutsches oder doch Spä-
teres finden.
Schon die Namen bestätigen diese Ansicht der Alliteration.
Wenn in der Edda gefragt wird: wie viel Laute (Lieder) gibt
L

das Uebergewicht erlangten. An einen Zuſammenhang, oder
nur Einfluß ihrer Kunſt auf den altdeutſchen Meiſterſang iſt
aber nicht zu glauben.

1) In der nordiſchen uralten wie in der Scaldenpoeſie gilt
die Alliteration 184) herrſchend und unſere Reime fehlen. Erſt

184) Wenn es erlaubt iſt, Gleichniſſe fuͤr eine Sache zu verſuchen,
die uns zu lange aus Erfahrung und Beiſpiel herausgeruͤckt ge-
weſen iſt, ſo kann man ſich das Weſen der an- und eintoͤnen-
den Alliteration von dem austoͤnenden Reim ſo erklaͤren, daß
in dieſem ein allgemein muſikaliſches Princip, in jener das der
Menſchenſprache vorwaltet. Der Reim iſt ein fließendes, in
ſich ſelber klingendes Waſſer, die Alliteration, das Einſchneiden
des Schiffs, deſſen Ruderſchlag; oder, der Reim iſt das We-
ſen der Luſt, die Alliteration die Stimme der Blaͤtter, woran
der Wind ſtreicht, daher in ihr etwas eigen heimiſches und er-
greifendes. Daher werden auch alle Interjectionen, ſobald ſie
aus den, ſo zu ſagen ſtummen, Luſt- und Schmerzenslauten
in das Menſchlichbewegende gehen, alliterirend, wie die kindli-
chen Liebkoſungen. Aus allem dem, und den Spuren, worin
ſie ſich von orientaliſcher Poeſie (ja vom griechiſchen Augment)
an bis in unſere Sprichwoͤrter und Nachſprecheſpiele zeigt, er-
gibt ſich das unerdichtete, der menſchlichen Natur nahliegende
Element der Alliteration. Zwei große Vortheile hat ſie vor
dem Reim voraus, die Bedeutſamkeit, indem ſie nur ſinnwich-
tige Woͤrter ergreift und mit dem Accent der Sprache aufs in-
nigſte zuſammenſtimmt, daher ihre Beſtandtheile mit Recht die
Staͤbe des Lieds (hliodstafir, Liedſtaben), deſſen Seele ſie aus-
machen, genannt werden; — dann die Beweglichkeit, indem
ſie in der Zeile an keine Stelle gebunden iſt, waͤhrend der Reim
das Schlußwort der Zeile halten muß. So wie jene Innigkeit
des Accents mit dem Sinn der Worte und der genaue Schritt,
den wieder das alliterirende Metrum damit haͤlt, ein koͤſtlicher,
nicht gehoͤrig erkannter Vorzug der germaniſchen Sprachen iſt;
ſo erreicht andererſeits die Alliteration faſt die innere Freiheit
griechiſcher Rhythmen. Aus beiden Gruͤnden mochte man in
dem Reimprincip zum Theil etwas Undcutſches oder doch Spaͤ-
teres finden.
Schon die Namen beſtaͤtigen dieſe Anſicht der Alliteration.
Wenn in der Edda gefragt wird: wie viel Laute (Lieder) gibt
L
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[161/0171] das Uebergewicht erlangten. An einen Zuſammenhang, oder nur Einfluß ihrer Kunſt auf den altdeutſchen Meiſterſang iſt aber nicht zu glauben. 1) In der nordiſchen uralten wie in der Scaldenpoeſie gilt die Alliteration 184) herrſchend und unſere Reime fehlen. Erſt 184) Wenn es erlaubt iſt, Gleichniſſe fuͤr eine Sache zu verſuchen, die uns zu lange aus Erfahrung und Beiſpiel herausgeruͤckt ge- weſen iſt, ſo kann man ſich das Weſen der an- und eintoͤnen- den Alliteration von dem austoͤnenden Reim ſo erklaͤren, daß in dieſem ein allgemein muſikaliſches Princip, in jener das der Menſchenſprache vorwaltet. Der Reim iſt ein fließendes, in ſich ſelber klingendes Waſſer, die Alliteration, das Einſchneiden des Schiffs, deſſen Ruderſchlag; oder, der Reim iſt das We- ſen der Luſt, die Alliteration die Stimme der Blaͤtter, woran der Wind ſtreicht, daher in ihr etwas eigen heimiſches und er- greifendes. Daher werden auch alle Interjectionen, ſobald ſie aus den, ſo zu ſagen ſtummen, Luſt- und Schmerzenslauten in das Menſchlichbewegende gehen, alliterirend, wie die kindli- chen Liebkoſungen. Aus allem dem, und den Spuren, worin ſie ſich von orientaliſcher Poeſie (ja vom griechiſchen Augment) an bis in unſere Sprichwoͤrter und Nachſprecheſpiele zeigt, er- gibt ſich das unerdichtete, der menſchlichen Natur nahliegende Element der Alliteration. Zwei große Vortheile hat ſie vor dem Reim voraus, die Bedeutſamkeit, indem ſie nur ſinnwich- tige Woͤrter ergreift und mit dem Accent der Sprache aufs in- nigſte zuſammenſtimmt, daher ihre Beſtandtheile mit Recht die Staͤbe des Lieds (hliodstafir, Liedſtaben), deſſen Seele ſie aus- machen, genannt werden; — dann die Beweglichkeit, indem ſie in der Zeile an keine Stelle gebunden iſt, waͤhrend der Reim das Schlußwort der Zeile halten muß. So wie jene Innigkeit des Accents mit dem Sinn der Worte und der genaue Schritt, den wieder das alliterirende Metrum damit haͤlt, ein koͤſtlicher, nicht gehoͤrig erkannter Vorzug der germaniſchen Sprachen iſt; ſo erreicht andererſeits die Alliteration faſt die innere Freiheit griechiſcher Rhythmen. Aus beiden Gruͤnden mochte man in dem Reimprincip zum Theil etwas Undcutſches oder doch Spaͤ- teres finden. Schon die Namen beſtaͤtigen dieſe Anſicht der Alliteration. Wenn in der Edda gefragt wird: wie viel Laute (Lieder) gibt L

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811, S. 161. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_meistergesang_1811/171>, abgerufen am 19.04.2024.