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Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811.

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Sie lebten der Gegenwart und den Thaten der Zeitgenossen 199),
und daher kommt auch der Verfall ihrer Kunst. Als die Tha-
ten abnahmen, nahm die Künstelei immer zu, bis daß die
Sänger endlich an den Höfen nicht mehr geliebt waren. Selbst
durch ihr Schicksal erinnert also die Scaldenpoesie äußerlich
an den Meistergesang, ohne daß sie jedoch gleich diesem in den
bürgerlichen Stand niederschlug. Vielmehr sind es fast Ge-
lehrte aus den besseren Ständen, welche sich noch nachher, bis
in unsere Zeiten, damit beschäftigten.

V. Engländer.

England, in welches der Reihe nach Sachsen, Dänen und
französische Normannen einzogen und sich zum Theil mit den
früheren Britten und Welschen vermischten, ist schon aus die-
sem Grunde zu keiner ruhigen Entfaltung seiner Kunstpoesie
gelangt. Die germanischen Stämme führten wenigstens die
Alliteration ein, wo sie nicht schon früher unter dem wel-
schen 200) einheimisch war. So viel ist ausgemacht, daß wie

der mahnt, wie an H. von Meisen (1. p. 6.) Rubin, (1. 171.)
den von Landeck (1. 203.) Aber herrlich steht unter allen die-
sen Vogelwoides Gesang aus dem Herzen (1. 108.)
Was hat die welt zegebene
Liebers danne ein wib etc.
199) Eine merkwürdige Stelle hierüber in der Egilssaga (Hafn. 1809.
4.) pag. 650. -- Uebrigens ist auch in der nordischen Poesie die
Idee der Streit- und Wechsellieder zu alt, als daß sie nicht
auch noch von späten Scalden ergriffen seyn sollte. S. Thor-
lacius l. c. p.
43. 44. Viele alte Lieder bestehen fast nur in
aufgegebenen und gelösten Fragen, wie Fiölsoinns- und Vaf-
thrudinsmal, oder wie die Reden zwischen Giestur und Heidre-
kur in der Hervora S. oder zwischen Erich und Frode. (Suhms
nord. Fabelzeit. 1. 319. 320.)
200) Eine gründliche Untersuchung der welschen Sänger, ihres Or-
dens und ihrer weitgetriebenen Regeln wäre ein augenscheinli-
cher Gewinn für die Litteratur des ganzen Mittelalters. Leider

Sie lebten der Gegenwart und den Thaten der Zeitgenoſſen 199),
und daher kommt auch der Verfall ihrer Kunſt. Als die Tha-
ten abnahmen, nahm die Kuͤnſtelei immer zu, bis daß die
Saͤnger endlich an den Hoͤfen nicht mehr geliebt waren. Selbſt
durch ihr Schickſal erinnert alſo die Scaldenpoeſie aͤußerlich
an den Meiſtergeſang, ohne daß ſie jedoch gleich dieſem in den
buͤrgerlichen Stand niederſchlug. Vielmehr ſind es faſt Ge-
lehrte aus den beſſeren Staͤnden, welche ſich noch nachher, bis
in unſere Zeiten, damit beſchaͤftigten.

V. Englaͤnder.

England, in welches der Reihe nach Sachſen, Daͤnen und
franzoͤſiſche Normannen einzogen und ſich zum Theil mit den
fruͤheren Britten und Welſchen vermiſchten, iſt ſchon aus die-
ſem Grunde zu keiner ruhigen Entfaltung ſeiner Kunſtpoeſie
gelangt. Die germaniſchen Staͤmme fuͤhrten wenigſtens die
Alliteration ein, wo ſie nicht ſchon fruͤher unter dem wel-
ſchen 200) einheimiſch war. So viel iſt ausgemacht, daß wie

der mahnt, wie an H. von Meiſen (1. p. 6.) Rubin, (1. 171.)
den von Landeck (1. 203.) Aber herrlich ſteht unter allen die-
ſen Vogelwoides Geſang aus dem Herzen (1. 108.)
Was hat die welt zegebene
Liebers danne ein wib ꝛc.
199) Eine merkwuͤrdige Stelle hieruͤber in der Egilsſaga (Hafn. 1809.
4.) pag. 650. — Uebrigens iſt auch in der nordiſchen Poeſie die
Idee der Streit- und Wechſellieder zu alt, als daß ſie nicht
auch noch von ſpaͤten Scalden ergriffen ſeyn ſollte. S. Thor-
lacius l. c. p.
43. 44. Viele alte Lieder beſtehen faſt nur in
aufgegebenen und geloͤſten Fragen, wie Fioͤlſoinns- und Vaf-
thrudinsmal, oder wie die Reden zwiſchen Gieſtur und Heidre-
kur in der Hervora S. oder zwiſchen Erich und Frode. (Suhms
nord. Fabelzeit. 1. 319. 320.)
200) Eine gruͤndliche Unterſuchung der welſchen Saͤnger, ihres Or-
dens und ihrer weitgetriebenen Regeln waͤre ein augenſcheinli-
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[168/0178] Sie lebten der Gegenwart und den Thaten der Zeitgenoſſen 199), und daher kommt auch der Verfall ihrer Kunſt. Als die Tha- ten abnahmen, nahm die Kuͤnſtelei immer zu, bis daß die Saͤnger endlich an den Hoͤfen nicht mehr geliebt waren. Selbſt durch ihr Schickſal erinnert alſo die Scaldenpoeſie aͤußerlich an den Meiſtergeſang, ohne daß ſie jedoch gleich dieſem in den buͤrgerlichen Stand niederſchlug. Vielmehr ſind es faſt Ge- lehrte aus den beſſeren Staͤnden, welche ſich noch nachher, bis in unſere Zeiten, damit beſchaͤftigten. V. Englaͤnder. England, in welches der Reihe nach Sachſen, Daͤnen und franzoͤſiſche Normannen einzogen und ſich zum Theil mit den fruͤheren Britten und Welſchen vermiſchten, iſt ſchon aus die- ſem Grunde zu keiner ruhigen Entfaltung ſeiner Kunſtpoeſie gelangt. Die germaniſchen Staͤmme fuͤhrten wenigſtens die Alliteration ein, wo ſie nicht ſchon fruͤher unter dem wel- ſchen 200) einheimiſch war. So viel iſt ausgemacht, daß wie 198) 199) Eine merkwuͤrdige Stelle hieruͤber in der Egilsſaga (Hafn. 1809. 4.) pag. 650. — Uebrigens iſt auch in der nordiſchen Poeſie die Idee der Streit- und Wechſellieder zu alt, als daß ſie nicht auch noch von ſpaͤten Scalden ergriffen ſeyn ſollte. S. Thor- lacius l. c. p. 43. 44. Viele alte Lieder beſtehen faſt nur in aufgegebenen und geloͤſten Fragen, wie Fioͤlſoinns- und Vaf- thrudinsmal, oder wie die Reden zwiſchen Gieſtur und Heidre- kur in der Hervora S. oder zwiſchen Erich und Frode. (Suhms nord. Fabelzeit. 1. 319. 320.) 200) Eine gruͤndliche Unterſuchung der welſchen Saͤnger, ihres Or- dens und ihrer weitgetriebenen Regeln waͤre ein augenſcheinli- cher Gewinn fuͤr die Litteratur des ganzen Mittelalters. Leider 198) der mahnt, wie an H. von Meiſen (1. p. 6.) Rubin, (1. 171.) den von Landeck (1. 203.) Aber herrlich ſteht unter allen die- ſen Vogelwoides Geſang aus dem Herzen (1. 108.) Was hat die welt zegebene Liebers danne ein wib ꝛc.

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811, S. 168. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_meistergesang_1811/178>, abgerufen am 28.03.2024.