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Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811.

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den ganzen Gesang durch für jedes Reimpaar immer diesel-
ben bleiben. In den alten Vifer der Dänen machen die
Strophen von zwei Langzeilen, oder auch zwei kürzeren bei
weitem die Regel aus, vierzeilige, reimverschlingende sind
allemal neuer anzunehmen; desgleichen auch in solcher Art
deutschen und schottischen Volksliedern die Unvollkommenheit
der Reime, wofür manchmal bloße Abschnitte, sich in die
alte Zweizeiligkeit scheint zurückzuneigen. Hierher gehört die
Frage: in welche Strophen die altspanischen Volkslieder zer-
fallen? worüber ich gelegentlich meine Meinung versuchen
werde.
S. 42. Kein Einwand wäre unebener oder seichter wie der,
zu sagen, daß eine Menge neuer und selbst ausländischer Lie-
der den Bau an sich trügen, den wir dem Meistergesang zu-
geeignet haben. Es würde auch in der That nichts verdäch-
tiger seyn, als wenn der Grund, worin die lebensvolle Poesie
des 13ten Jahrh. gestanden, nicht weit über die Zeit und
den Raum des Meistersangs hinausginge. Man darf anneh-
men, daß während die Hälfte unserer besten modernen Lie-
der in zwei Theile zerfällt, vielleicht die andere die drei Theile
des Meistergesangs beobachtet und das gewiß, ohne es je
zu wollen, aus dem wahren Gefühl dadurch erreichter Sing-
barkeit. Es scheint paradox, aber ist es nicht, (weil der
Minnesang sich nachher aus dem meisterlichen, dessen Quelle
und Blühen er gewesen, ab und zu der Volkspoesie hinge-
wendet,) daß wir viele Lieder des 14ten und 15ten Jahrh.,
an sich schwerer und componirter, wie so manche alte Min-
nesänge, nicht gleich den letzteren dem Meistergesang zu-,
sondern vielmehr absprechen müssen; überhaupt ihm am sicher-
sten keinen Gesang aus der späteren Zeit zusprechen dürfen,
der sich nicht der Strenge nach (daß er verdorben seyn könnte,
verschlägt nichts) in den damaligen Schultönen aufweisen
läßt. Um hier noch einmal das schon mehr gebrauchte Bei-
den ganzen Geſang durch fuͤr jedes Reimpaar immer dieſel-
ben bleiben. In den alten Vifer der Daͤnen machen die
Strophen von zwei Langzeilen, oder auch zwei kuͤrzeren bei
weitem die Regel aus, vierzeilige, reimverſchlingende ſind
allemal neuer anzunehmen; desgleichen auch in ſolcher Art
deutſchen und ſchottiſchen Volksliedern die Unvollkommenheit
der Reime, wofuͤr manchmal bloße Abſchnitte, ſich in die
alte Zweizeiligkeit ſcheint zuruͤckzuneigen. Hierher gehoͤrt die
Frage: in welche Strophen die altſpaniſchen Volkslieder zer-
fallen? woruͤber ich gelegentlich meine Meinung verſuchen
werde.
S. 42. Kein Einwand waͤre unebener oder ſeichter wie der,
zu ſagen, daß eine Menge neuer und ſelbſt auslaͤndiſcher Lie-
der den Bau an ſich truͤgen, den wir dem Meiſtergeſang zu-
geeignet haben. Es wuͤrde auch in der That nichts verdaͤch-
tiger ſeyn, als wenn der Grund, worin die lebensvolle Poeſie
des 13ten Jahrh. geſtanden, nicht weit uͤber die Zeit und
den Raum des Meiſterſangs hinausginge. Man darf anneh-
men, daß waͤhrend die Haͤlfte unſerer beſten modernen Lie-
der in zwei Theile zerfaͤllt, vielleicht die andere die drei Theile
des Meiſtergeſangs beobachtet und das gewiß, ohne es je
zu wollen, aus dem wahren Gefuͤhl dadurch erreichter Sing-
barkeit. Es ſcheint paradox, aber iſt es nicht, (weil der
Minneſang ſich nachher aus dem meiſterlichen, deſſen Quelle
und Bluͤhen er geweſen, ab und zu der Volkspoeſie hinge-
wendet,) daß wir viele Lieder des 14ten und 15ten Jahrh.,
an ſich ſchwerer und componirter, wie ſo manche alte Min-
neſaͤnge, nicht gleich den letzteren dem Meiſtergeſang zu-,
ſondern vielmehr abſprechen muͤſſen; uͤberhaupt ihm am ſicher-
ſten keinen Geſang aus der ſpaͤteren Zeit zuſprechen duͤrfen,
der ſich nicht der Strenge nach (daß er verdorben ſeyn koͤnnte,
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[176/0186] den ganzen Geſang durch fuͤr jedes Reimpaar immer dieſel- ben bleiben. In den alten Vifer der Daͤnen machen die Strophen von zwei Langzeilen, oder auch zwei kuͤrzeren bei weitem die Regel aus, vierzeilige, reimverſchlingende ſind allemal neuer anzunehmen; desgleichen auch in ſolcher Art deutſchen und ſchottiſchen Volksliedern die Unvollkommenheit der Reime, wofuͤr manchmal bloße Abſchnitte, ſich in die alte Zweizeiligkeit ſcheint zuruͤckzuneigen. Hierher gehoͤrt die Frage: in welche Strophen die altſpaniſchen Volkslieder zer- fallen? woruͤber ich gelegentlich meine Meinung verſuchen werde. S. 42. Kein Einwand waͤre unebener oder ſeichter wie der, zu ſagen, daß eine Menge neuer und ſelbſt auslaͤndiſcher Lie- der den Bau an ſich truͤgen, den wir dem Meiſtergeſang zu- geeignet haben. Es wuͤrde auch in der That nichts verdaͤch- tiger ſeyn, als wenn der Grund, worin die lebensvolle Poeſie des 13ten Jahrh. geſtanden, nicht weit uͤber die Zeit und den Raum des Meiſterſangs hinausginge. Man darf anneh- men, daß waͤhrend die Haͤlfte unſerer beſten modernen Lie- der in zwei Theile zerfaͤllt, vielleicht die andere die drei Theile des Meiſtergeſangs beobachtet und das gewiß, ohne es je zu wollen, aus dem wahren Gefuͤhl dadurch erreichter Sing- barkeit. Es ſcheint paradox, aber iſt es nicht, (weil der Minneſang ſich nachher aus dem meiſterlichen, deſſen Quelle und Bluͤhen er geweſen, ab und zu der Volkspoeſie hinge- wendet,) daß wir viele Lieder des 14ten und 15ten Jahrh., an ſich ſchwerer und componirter, wie ſo manche alte Min- neſaͤnge, nicht gleich den letzteren dem Meiſtergeſang zu-, ſondern vielmehr abſprechen muͤſſen; uͤberhaupt ihm am ſicher- ſten keinen Geſang aus der ſpaͤteren Zeit zuſprechen duͤrfen, der ſich nicht der Strenge nach (daß er verdorben ſeyn koͤnnte, verſchlaͤgt nichts) in den damaligen Schultoͤnen aufweiſen laͤßt. Um hier noch einmal das ſchon mehr gebrauchte Bei-

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811, S. 176. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_meistergesang_1811/186>, abgerufen am 28.03.2024.