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Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811.

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dritten kurzen Zeile entsprungen zu seyn, was im 16ten und
17ten Jahrhundert allgemein unter dem Namen der Tag-
weis
bekannt war und wonach alle die vielen Lieder im Ton:
ich stund an einem Morgen etc., es wonet Lieb bei Liebe etc., des
Fräuleins von Brittannia etc. gingen (auch Wunderh 1 265.).
Und merkwürdig steht diese Tageweis, oft halb unaufgelöst,
in einem mit seiner Aechtheit gestempelten Soldatenlied,
(Simpliciss Buch 2. c. 28.) allenfalls auch im Lied vom Ha-
bersack. Bedeutender als alles dieß aber, und wohin be-
reits der mit den alten Tageliedern zusammenhängende Na-
men schließen ließ, ist die Gewißheit des weit aufsteigenden
Alters dieser Weise, indem sie ganz genau, selbst in Sil-
ben und Reimgeschlecht bei Steinmar 2. 107. (ein kneht etc.)
vorkommt, noch dazu in einem Lied, das man sogleich für
eine Parodie der Wächter- oder Tagelieder erkennen muß.
Ja, aus diesem Grund scheint sich Steinmar (welcher ohne-
hin zu den Hofdichtern gehört, die einen Fuß auf das Land
der Volkspoesie stellen) eben an die im Volk gangbare Tag-
weise gebunden zu haben, deren sich sonst -- was wieder
gut zu meiner allgemeinen Ansicht paßt -- kein einziger
Meister in einer ansehnlichen Zahl von Wächterliedern, die
wir besitzen, bedient hat, (obwohl auch in der Volkspoesie
daneben einige Tagelieder in anderer Form vorkommen.)
Günther vom Vorste, dessen langes Tagelied auch etwas
bänkelsängerisch anhebt, hält zwar dieselben Reime, hat aber
meist männliche und mehr Silben zu jeder Zeile, als jene
dazumal schon fixirte Form, sonst gehört allerdings sein Ton
zu demselben Haupttypus.
Alles das ist zum Theil bloß Conjectur. In der Dun-
kelheit dieser vielgängigen Höhle noch die wechselseitigen Ein-
flüsse nachzurechnen, da nun die Lichter so vieler Quellen ab-
gebrennt sind, hat seine große Schwierigkeit. Gewiß hat
sich aber der Volksgesang aus der ersten Einfachheit nachher
dritten kurzen Zeile entſprungen zu ſeyn, was im 16ten und
17ten Jahrhundert allgemein unter dem Namen der Tag-
weis
bekannt war und wonach alle die vielen Lieder im Ton:
ich ſtund an einem Morgen ꝛc., es wonet Lieb bei Liebe ꝛc., des
Fraͤuleins von Brittannia ꝛc. gingen (auch Wunderh 1 265.).
Und merkwuͤrdig ſteht dieſe Tageweis, oft halb unaufgeloͤſt,
in einem mit ſeiner Aechtheit geſtempelten Soldatenlied,
(Simpliciſſ Buch 2. c. 28.) allenfalls auch im Lied vom Ha-
berſack. Bedeutender als alles dieß aber, und wohin be-
reits der mit den alten Tageliedern zuſammenhaͤngende Na-
men ſchließen ließ, iſt die Gewißheit des weit aufſteigenden
Alters dieſer Weiſe, indem ſie ganz genau, ſelbſt in Sil-
ben und Reimgeſchlecht bei Steinmar 2. 107. (ein kneht ꝛc.)
vorkommt, noch dazu in einem Lied, das man ſogleich fuͤr
eine Parodie der Waͤchter- oder Tagelieder erkennen muß.
Ja, aus dieſem Grund ſcheint ſich Steinmar (welcher ohne-
hin zu den Hofdichtern gehoͤrt, die einen Fuß auf das Land
der Volkspoeſie ſtellen) eben an die im Volk gangbare Tag-
weiſe gebunden zu haben, deren ſich ſonſt — was wieder
gut zu meiner allgemeinen Anſicht paßt — kein einziger
Meiſter in einer anſehnlichen Zahl von Waͤchterliedern, die
wir beſitzen, bedient hat, (obwohl auch in der Volkspoeſie
daneben einige Tagelieder in anderer Form vorkommen.)
Guͤnther vom Vorſte, deſſen langes Tagelied auch etwas
baͤnkelſaͤngeriſch anhebt, haͤlt zwar dieſelben Reime, hat aber
meiſt maͤnnliche und mehr Silben zu jeder Zeile, als jene
dazumal ſchon fixirte Form, ſonſt gehoͤrt allerdings ſein Ton
zu demſelben Haupttypus.
Alles das iſt zum Theil bloß Conjectur. In der Dun-
kelheit dieſer vielgaͤngigen Hoͤhle noch die wechſelſeitigen Ein-
fluͤſſe nachzurechnen, da nun die Lichter ſo vieler Quellen ab-
gebrennt ſind, hat ſeine große Schwierigkeit. Gewiß hat
ſich aber der Volksgeſang aus der erſten Einfachheit nachher
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[180/0190] dritten kurzen Zeile entſprungen zu ſeyn, was im 16ten und 17ten Jahrhundert allgemein unter dem Namen der Tag- weis bekannt war und wonach alle die vielen Lieder im Ton: ich ſtund an einem Morgen ꝛc., es wonet Lieb bei Liebe ꝛc., des Fraͤuleins von Brittannia ꝛc. gingen (auch Wunderh 1 265.). Und merkwuͤrdig ſteht dieſe Tageweis, oft halb unaufgeloͤſt, in einem mit ſeiner Aechtheit geſtempelten Soldatenlied, (Simpliciſſ Buch 2. c. 28.) allenfalls auch im Lied vom Ha- berſack. Bedeutender als alles dieß aber, und wohin be- reits der mit den alten Tageliedern zuſammenhaͤngende Na- men ſchließen ließ, iſt die Gewißheit des weit aufſteigenden Alters dieſer Weiſe, indem ſie ganz genau, ſelbſt in Sil- ben und Reimgeſchlecht bei Steinmar 2. 107. (ein kneht ꝛc.) vorkommt, noch dazu in einem Lied, das man ſogleich fuͤr eine Parodie der Waͤchter- oder Tagelieder erkennen muß. Ja, aus dieſem Grund ſcheint ſich Steinmar (welcher ohne- hin zu den Hofdichtern gehoͤrt, die einen Fuß auf das Land der Volkspoeſie ſtellen) eben an die im Volk gangbare Tag- weiſe gebunden zu haben, deren ſich ſonſt — was wieder gut zu meiner allgemeinen Anſicht paßt — kein einziger Meiſter in einer anſehnlichen Zahl von Waͤchterliedern, die wir beſitzen, bedient hat, (obwohl auch in der Volkspoeſie daneben einige Tagelieder in anderer Form vorkommen.) Guͤnther vom Vorſte, deſſen langes Tagelied auch etwas baͤnkelſaͤngeriſch anhebt, haͤlt zwar dieſelben Reime, hat aber meiſt maͤnnliche und mehr Silben zu jeder Zeile, als jene dazumal ſchon fixirte Form, ſonſt gehoͤrt allerdings ſein Ton zu demſelben Haupttypus. Alles das iſt zum Theil bloß Conjectur. In der Dun- kelheit dieſer vielgaͤngigen Hoͤhle noch die wechſelſeitigen Ein- fluͤſſe nachzurechnen, da nun die Lichter ſo vieler Quellen ab- gebrennt ſind, hat ſeine große Schwierigkeit. Gewiß hat ſich aber der Volksgeſang aus der erſten Einfachheit nachher

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811, S. 180. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_meistergesang_1811/190>, abgerufen am 25.04.2024.