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Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811.

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S. 161. Z. 184. Folgender Ausdruck, um den Grund der Alli-
teration und des Reims zu unterscheiden, macht das Gesagte
wohl deutlicher Ersteren könnte man das zeugende, bleibende,
letzteren das bildende, biegende Princip nennen. Daher
kommt, daß wenn wir nach der Wurzel eines jeden Worts
fragen, die nothwendige Identität des anhebenden Conso-
nanten das Merkmal gibt, hingegen die Gleichgültigkeit al-
ler Vecalen sogleich hervortritt, deren mehr oder mindere
Uebereinstimmung durchaus nur die nähere oder fernere Ver-
wandtschaft (und das nicht allzeit) anzeigt, allein nie für Ab-
stammung oder nicht den Ausschlag gewährt. Der Conso-
nantismus ruht stehend auf der Wurzel und gibt (wie das
schon v. d. Hagen gut ausgedrückt hat) Knochen und Seh-
nen; der Reim neigt sich offenbar in die Biegung hinaus.
Freilich hat der Reim in den germanischen Sprachen zwei
Theile, indem er einmal auf dem Vocalis der Wurzel liegt,
dann auch, in seiner Ausbildung auf dem Consonant der En-
digung. In andern, z. B. der französischen kann er bekannt-
lich selbst bloß auf die Biegung treten. Aus beiderlei Grund
ist das Uebergewicht unserer männlichen Reime höchst schätz-
bar und der spätere Gebrauch der Reime insgemein wahr-
scheinlich, zumal da in älteren und in Volksliedern die Vo-
cale nicht nur, sondern auch die Endconsonanten viel gleich-
gültiger angewendet werden. -- Auf der andern Seite ist zu
erwarten, daß das, was der Alliteration zum Grund liegt,
sich nicht bloß in einzelnen Wörterfamilien offenbart, sondern
in ganzen Reihen grammatischer Formen überhaupt, der, z. B.
daß im Deutschen alle geraden Fragwörter mit einem W. an-
gehen u. s. w.


S. 161. Z. 184. Folgender Ausdruck, um den Grund der Alli-
teration und des Reims zu unterſcheiden, macht das Geſagte
wohl deutlicher Erſteren koͤnnte man das zeugende, bleibende,
letzteren das bildende, biegende Princip nennen. Daher
kommt, daß wenn wir nach der Wurzel eines jeden Worts
fragen, die nothwendige Identitaͤt des anhebenden Conſo-
nanten das Merkmal gibt, hingegen die Gleichguͤltigkeit al-
ler Vecalen ſogleich hervortritt, deren mehr oder mindere
Uebereinſtimmung durchaus nur die naͤhere oder fernere Ver-
wandtſchaft (und das nicht allzeit) anzeigt, allein nie fuͤr Ab-
ſtammung oder nicht den Ausſchlag gewaͤhrt. Der Conſo-
nantismus ruht ſtehend auf der Wurzel und gibt (wie das
ſchon v. d. Hagen gut ausgedruͤckt hat) Knochen und Seh-
nen; der Reim neigt ſich offenbar in die Biegung hinaus.
Freilich hat der Reim in den germaniſchen Sprachen zwei
Theile, indem er einmal auf dem Vocalis der Wurzel liegt,
dann auch, in ſeiner Ausbildung auf dem Conſonant der En-
digung. In andern, z. B. der franzoͤſiſchen kann er bekannt-
lich ſelbſt bloß auf die Biegung treten. Aus beiderlei Grund
iſt das Uebergewicht unſerer maͤnnlichen Reime hoͤchſt ſchaͤtz-
bar und der ſpaͤtere Gebrauch der Reime insgemein wahr-
ſcheinlich, zumal da in aͤlteren und in Volksliedern die Vo-
cale nicht nur, ſondern auch die Endconſonanten viel gleich-
guͤltiger angewendet werden. — Auf der andern Seite iſt zu
erwarten, daß das, was der Alliteration zum Grund liegt,
ſich nicht bloß in einzelnen Woͤrterfamilien offenbart, ſondern
in ganzen Reihen grammatiſcher Formen uͤberhaupt, der, z. B.
daß im Deutſchen alle geraden Fragwoͤrter mit einem W. an-
gehen u. ſ. w.


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[188/0198] S. 161. Z. 184. Folgender Ausdruck, um den Grund der Alli- teration und des Reims zu unterſcheiden, macht das Geſagte wohl deutlicher Erſteren koͤnnte man das zeugende, bleibende, letzteren das bildende, biegende Princip nennen. Daher kommt, daß wenn wir nach der Wurzel eines jeden Worts fragen, die nothwendige Identitaͤt des anhebenden Conſo- nanten das Merkmal gibt, hingegen die Gleichguͤltigkeit al- ler Vecalen ſogleich hervortritt, deren mehr oder mindere Uebereinſtimmung durchaus nur die naͤhere oder fernere Ver- wandtſchaft (und das nicht allzeit) anzeigt, allein nie fuͤr Ab- ſtammung oder nicht den Ausſchlag gewaͤhrt. Der Conſo- nantismus ruht ſtehend auf der Wurzel und gibt (wie das ſchon v. d. Hagen gut ausgedruͤckt hat) Knochen und Seh- nen; der Reim neigt ſich offenbar in die Biegung hinaus. Freilich hat der Reim in den germaniſchen Sprachen zwei Theile, indem er einmal auf dem Vocalis der Wurzel liegt, dann auch, in ſeiner Ausbildung auf dem Conſonant der En- digung. In andern, z. B. der franzoͤſiſchen kann er bekannt- lich ſelbſt bloß auf die Biegung treten. Aus beiderlei Grund iſt das Uebergewicht unſerer maͤnnlichen Reime hoͤchſt ſchaͤtz- bar und der ſpaͤtere Gebrauch der Reime insgemein wahr- ſcheinlich, zumal da in aͤlteren und in Volksliedern die Vo- cale nicht nur, ſondern auch die Endconſonanten viel gleich- guͤltiger angewendet werden. — Auf der andern Seite iſt zu erwarten, daß das, was der Alliteration zum Grund liegt, ſich nicht bloß in einzelnen Woͤrterfamilien offenbart, ſondern in ganzen Reihen grammatiſcher Formen uͤberhaupt, der, z. B. daß im Deutſchen alle geraden Fragwoͤrter mit einem W. an- gehen u. ſ. w.

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811, S. 188. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_meistergesang_1811/198>, abgerufen am 24.04.2024.