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Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811.

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zierter, je schlechter sie bezahlt werden, und sie unterlassen
dabei nie zu sagen, daß ihr Lob ein wahres sey und sie das
der Schlechten verabscheuen. Sie mögen aus allen freien
Künsten schöpfen, um neue reizende Gleichnisse zu erfinden,
ihr Anfehen kann nun nicht mehr erhalten werden. Der Mei-
ster kehret sich ganz seinem Gemüth zu, die Lust, große Ro-
mane zu reimen, verliert sich, aber die Lust, den Weltlauf zu
ergründen, die göttlichen und menschlichen Dinge zu betrach-
ten wird immer reger 20), ohne Zweifel waren die meisten
Dichter mit der Frucht ihrer Arbeit höchst vergnügt. Dabei
versieht sich von selbst, daß sie die Form der Worte aufs
höchste trieben und durch deren geheimnißvolle Stellung das
Geheimnißreiche (nicht ohne Grund) zu ehren strebten, eben so
glaublich ist es, daß sie ihre äußerliche Verbindung unter ein-
ander weit entfernt fahren zu lassen, in manchen Ceremonien
zu befestigen suchten. Man darf die im vierzehnten Jahrhun-
dert erschienenen Meisterlieder nicht sogleich schlecht heißen, noch
weniger ihre Verfasser heruntersetzen. Unter diesen lebten ächt
poetische Gemüther, Frauenlobs Werke sind überreich, wun-
derbar und von einer Verworrenheit, aus der sie sich gleichsam
zu ihrem eigenen Schmerz nicht zu lösen vermögen. Nicht so
wohl er, wenn wir nach dem Uebriggebliebenen urtheilen, (ob-
gleich sein ganz anders zu erklärender Name, und die Sage
darauf hinweisen), sondern andere mit ihm gleichzeitige, fallen

20) Die merkwürdigste und deutlichste mir bekannte Stelle, worin
die sämmtlichen sieben freien Töchter auf den Meistergesang
angewendet werden, ist in einem Gesang in dem langen Re-
genbogen, bald zu Ende des Weimarischen Codex. Ich würde
ihn gern mittheilen, wenn es der Raum erlaubte. Daß aber,
so bald wir den Meistergesang richtig, d. h. historisch betrach-
ten, sein Wesen von dem Studium der sieben Künste, unab-
hängig ist, wird noch unten vorkommen, Note 66. Man vergl.
Regenbog Maneße 2. 197. Canzler 2. 246 u. Wagenseil
552. 553.

zierter, je ſchlechter ſie bezahlt werden, und ſie unterlaſſen
dabei nie zu ſagen, daß ihr Lob ein wahres ſey und ſie das
der Schlechten verabſcheuen. Sie moͤgen aus allen freien
Kuͤnſten ſchoͤpfen, um neue reizende Gleichniſſe zu erfinden,
ihr Anfehen kann nun nicht mehr erhalten werden. Der Mei-
ſter kehret ſich ganz ſeinem Gemuͤth zu, die Luſt, große Ro-
mane zu reimen, verliert ſich, aber die Luſt, den Weltlauf zu
ergruͤnden, die goͤttlichen und menſchlichen Dinge zu betrach-
ten wird immer reger 20), ohne Zweifel waren die meiſten
Dichter mit der Frucht ihrer Arbeit hoͤchſt vergnuͤgt. Dabei
verſieht ſich von ſelbſt, daß ſie die Form der Worte aufs
hoͤchſte trieben und durch deren geheimnißvolle Stellung das
Geheimnißreiche (nicht ohne Grund) zu ehren ſtrebten, eben ſo
glaublich iſt es, daß ſie ihre aͤußerliche Verbindung unter ein-
ander weit entfernt fahren zu laſſen, in manchen Ceremonien
zu befeſtigen ſuchten. Man darf die im vierzehnten Jahrhun-
dert erſchienenen Meiſterlieder nicht ſogleich ſchlecht heißen, noch
weniger ihre Verfaſſer herunterſetzen. Unter dieſen lebten aͤcht
poetiſche Gemuͤther, Frauenlobs Werke ſind uͤberreich, wun-
derbar und von einer Verworrenheit, aus der ſie ſich gleichſam
zu ihrem eigenen Schmerz nicht zu loͤſen vermoͤgen. Nicht ſo
wohl er, wenn wir nach dem Uebriggebliebenen urtheilen, (ob-
gleich ſein ganz anders zu erklaͤrender Name, und die Sage
darauf hinweiſen), ſondern andere mit ihm gleichzeitige, fallen

20) Die merkwuͤrdigſte und deutlichſte mir bekannte Stelle, worin
die ſaͤmmtlichen ſieben freien Toͤchter auf den Meiſtergeſang
angewendet werden, iſt in einem Geſang in dem langen Re-
genbogen, bald zu Ende des Weimariſchen Codex. Ich wuͤrde
ihn gern mittheilen, wenn es der Raum erlaubte. Daß aber,
ſo bald wir den Meiſtergeſang richtig, d. h. hiſtoriſch betrach-
ten, ſein Weſen von dem Studium der ſieben Kuͤnſte, unab-
haͤngig iſt, wird noch unten vorkommen, Note 66. Man vergl.
Regenbog Maneße 2. 197. Canzler 2. 246 u. Wagenſeil
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[32/0042] zierter, je ſchlechter ſie bezahlt werden, und ſie unterlaſſen dabei nie zu ſagen, daß ihr Lob ein wahres ſey und ſie das der Schlechten verabſcheuen. Sie moͤgen aus allen freien Kuͤnſten ſchoͤpfen, um neue reizende Gleichniſſe zu erfinden, ihr Anfehen kann nun nicht mehr erhalten werden. Der Mei- ſter kehret ſich ganz ſeinem Gemuͤth zu, die Luſt, große Ro- mane zu reimen, verliert ſich, aber die Luſt, den Weltlauf zu ergruͤnden, die goͤttlichen und menſchlichen Dinge zu betrach- ten wird immer reger 20), ohne Zweifel waren die meiſten Dichter mit der Frucht ihrer Arbeit hoͤchſt vergnuͤgt. Dabei verſieht ſich von ſelbſt, daß ſie die Form der Worte aufs hoͤchſte trieben und durch deren geheimnißvolle Stellung das Geheimnißreiche (nicht ohne Grund) zu ehren ſtrebten, eben ſo glaublich iſt es, daß ſie ihre aͤußerliche Verbindung unter ein- ander weit entfernt fahren zu laſſen, in manchen Ceremonien zu befeſtigen ſuchten. Man darf die im vierzehnten Jahrhun- dert erſchienenen Meiſterlieder nicht ſogleich ſchlecht heißen, noch weniger ihre Verfaſſer herunterſetzen. Unter dieſen lebten aͤcht poetiſche Gemuͤther, Frauenlobs Werke ſind uͤberreich, wun- derbar und von einer Verworrenheit, aus der ſie ſich gleichſam zu ihrem eigenen Schmerz nicht zu loͤſen vermoͤgen. Nicht ſo wohl er, wenn wir nach dem Uebriggebliebenen urtheilen, (ob- gleich ſein ganz anders zu erklaͤrender Name, und die Sage darauf hinweiſen), ſondern andere mit ihm gleichzeitige, fallen 20) Die merkwuͤrdigſte und deutlichſte mir bekannte Stelle, worin die ſaͤmmtlichen ſieben freien Toͤchter auf den Meiſtergeſang angewendet werden, iſt in einem Geſang in dem langen Re- genbogen, bald zu Ende des Weimariſchen Codex. Ich wuͤrde ihn gern mittheilen, wenn es der Raum erlaubte. Daß aber, ſo bald wir den Meiſtergeſang richtig, d. h. hiſtoriſch betrach- ten, ſein Weſen von dem Studium der ſieben Kuͤnſte, unab- haͤngig iſt, wird noch unten vorkommen, Note 66. Man vergl. Regenbog Maneße 2. 197. Canzler 2. 246 u. Wagenſeil 552. 553.

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_meistergesang_1811/42>, abgerufen am 29.03.2024.