Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811.

Bild:
<< vorherige Seite

und bei Otto von Turne nach den sieben Silben der Ab-
schnitt deutlich zu vermerken ist, nicht aber im alten Titurel,
folglich ist er absichtlich eingelegt worden. Der Umstand, daß
die Cäsuren im alten Gedicht gar nicht auf die spätere Abän-
derung hindeuten, darf ja nicht übersehen werden. Es ver-
steht sich von selbst, daß Wolfram gern ein Wort inmitten
der ersten oder hauptsächlich zweiten alten Zeile für seinen
einzulegenden Reim benutzte, weil er sonst zu viel ändern müs-
sen, nur zuweilen, wo sich gar nichts passendes vorfand, mußte
er in beiden neue Reime setzen. In der Regel kann man da-
her annehmen, daß seine zwei ersten Zeilen am meisten vom
alten Text weichen und eine gewisse Steifheit verrathen.

Wenn es sich nun fragt: warum hat Wolfram über-
haupt nicht den alten Bau gelassen, da seine Neuerung der
Sache selbst gar nicht nutzte und sichtlich einige fließende Wen-
dungen verdrehte? Die Antwort darauf ist meiner Absicht ge-
rade willkommen, denn ich wüßte keine zu geben, als: er suchte
das Princip des Meistersangs klärer herauszuheben und aus-
zugleichen 44).

Es muß uns befremden, daß der berühmte Ton eines so
großen Meisters späterhin ungebräuchlich geworden; er findet
sich in Füterers, Labers und Püterichs Gedichten, und
in einigen noch älteren Minneliedern im weimar. Cod., Cod. vatic.
348. und in Nyerups Symb. Allein in keinem der mir bekann-
ten Meistergesangbücher, weder unter Wolframs noch einem
andern Namen. Seine Anomalie im Silbenverhältniß stieß
vielleicht die spätern, äußerlich immer strengeren Meister an,
vielleicht aber haben sie ihn nur gebessert, die Stollen völlig

44) Warum wurde aber der Ton des Nibelungen in den unseres
H. B. aufgelöst? Auch, um die Forderung des Meistergesangs
zu erfüllen? Das will ich nicht sogleich verwerfen, obschon sich
noch einige Einwendungen machen lassen.

und bei Otto von Turne nach den ſieben Silben der Ab-
ſchnitt deutlich zu vermerken iſt, nicht aber im alten Titurel,
folglich iſt er abſichtlich eingelegt worden. Der Umſtand, daß
die Caͤſuren im alten Gedicht gar nicht auf die ſpaͤtere Abaͤn-
derung hindeuten, darf ja nicht uͤberſehen werden. Es ver-
ſteht ſich von ſelbſt, daß Wolfram gern ein Wort inmitten
der erſten oder hauptſaͤchlich zweiten alten Zeile fuͤr ſeinen
einzulegenden Reim benutzte, weil er ſonſt zu viel aͤndern muͤſ-
ſen, nur zuweilen, wo ſich gar nichts paſſendes vorfand, mußte
er in beiden neue Reime ſetzen. In der Regel kann man da-
her annehmen, daß ſeine zwei erſten Zeilen am meiſten vom
alten Text weichen und eine gewiſſe Steifheit verrathen.

Wenn es ſich nun fragt: warum hat Wolfram uͤber-
haupt nicht den alten Bau gelaſſen, da ſeine Neuerung der
Sache ſelbſt gar nicht nutzte und ſichtlich einige fließende Wen-
dungen verdrehte? Die Antwort darauf iſt meiner Abſicht ge-
rade willkommen, denn ich wuͤßte keine zu geben, als: er ſuchte
das Princip des Meiſterſangs klaͤrer herauszuheben und aus-
zugleichen 44).

Es muß uns befremden, daß der beruͤhmte Ton eines ſo
großen Meiſters ſpaͤterhin ungebraͤuchlich geworden; er findet
ſich in Fuͤterers, Labers und Puͤterichs Gedichten, und
in einigen noch aͤlteren Minneliedern im weimar. Cod., Cod. vatic.
348. und in Nyerups Symb. Allein in keinem der mir bekann-
ten Meiſtergeſangbuͤcher, weder unter Wolframs noch einem
andern Namen. Seine Anomalie im Silbenverhaͤltniß ſtieß
vielleicht die ſpaͤtern, aͤußerlich immer ſtrengeren Meiſter an,
vielleicht aber haben ſie ihn nur gebeſſert, die Stollen voͤllig

44) Warum wurde aber der Ton des Nibelungen in den unſeres
H. B. aufgeloͤſt? Auch, um die Forderung des Meiſtergeſangs
zu erfuͤllen? Das will ich nicht ſogleich verwerfen, obſchon ſich
noch einige Einwendungen machen laſſen.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0072" n="62"/>
und bei <hi rendition="#g">Otto von Turne</hi> nach den &#x017F;ieben Silben der Ab-<lb/>
&#x017F;chnitt deutlich zu vermerken i&#x017F;t, nicht aber im alten Titurel,<lb/>
folglich i&#x017F;t er ab&#x017F;ichtlich eingelegt worden. Der Um&#x017F;tand, daß<lb/>
die Ca&#x0364;&#x017F;uren im alten Gedicht gar nicht auf die &#x017F;pa&#x0364;tere Aba&#x0364;n-<lb/>
derung hindeuten, darf ja nicht u&#x0364;ber&#x017F;ehen werden. Es ver-<lb/>
&#x017F;teht &#x017F;ich von &#x017F;elb&#x017F;t, daß <hi rendition="#g">Wolfram</hi> gern ein Wort inmitten<lb/>
der er&#x017F;ten oder haupt&#x017F;a&#x0364;chlich zweiten alten Zeile fu&#x0364;r &#x017F;einen<lb/>
einzulegenden Reim benutzte, weil er &#x017F;on&#x017F;t zu viel a&#x0364;ndern mu&#x0364;&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en, nur zuweilen, wo &#x017F;ich gar nichts pa&#x017F;&#x017F;endes vorfand, mußte<lb/>
er in beiden neue Reime &#x017F;etzen. In der Regel kann man da-<lb/>
her annehmen, daß &#x017F;eine zwei er&#x017F;ten Zeilen am mei&#x017F;ten vom<lb/>
alten Text weichen und eine gewi&#x017F;&#x017F;e Steifheit verrathen.</p><lb/>
              <p>Wenn es &#x017F;ich nun fragt: warum hat <hi rendition="#g">Wolfram</hi> u&#x0364;ber-<lb/>
haupt nicht den alten Bau gela&#x017F;&#x017F;en, da &#x017F;eine Neuerung der<lb/>
Sache &#x017F;elb&#x017F;t gar nicht nutzte und &#x017F;ichtlich einige fließende Wen-<lb/>
dungen verdrehte? Die Antwort darauf i&#x017F;t meiner Ab&#x017F;icht ge-<lb/>
rade willkommen, denn ich wu&#x0364;ßte keine zu geben, als: er &#x017F;uchte<lb/>
das Princip des Mei&#x017F;ter&#x017F;angs kla&#x0364;rer herauszuheben und aus-<lb/>
zugleichen <note place="foot" n="44)">Warum wurde aber der Ton des Nibelungen in den un&#x017F;eres<lb/>
H. B. aufgelo&#x0364;&#x017F;t? Auch, um die Forderung des Mei&#x017F;terge&#x017F;angs<lb/>
zu erfu&#x0364;llen? Das will ich nicht &#x017F;ogleich verwerfen, ob&#x017F;chon &#x017F;ich<lb/>
noch einige Einwendungen machen la&#x017F;&#x017F;en.</note>.</p><lb/>
              <p>Es muß uns befremden, daß der beru&#x0364;hmte Ton eines &#x017F;o<lb/>
großen Mei&#x017F;ters &#x017F;pa&#x0364;terhin ungebra&#x0364;uchlich geworden; er findet<lb/>
&#x017F;ich in <hi rendition="#g">Fu&#x0364;terers, Labers</hi> und <hi rendition="#g">Pu&#x0364;terichs</hi> Gedichten, und<lb/>
in einigen noch a&#x0364;lteren Minneliedern im weimar. Cod., <hi rendition="#aq">Cod. vatic.</hi><lb/>
348. und in <hi rendition="#g">Nyerups</hi> Symb. Allein in keinem der mir bekann-<lb/>
ten Mei&#x017F;terge&#x017F;angbu&#x0364;cher, weder unter Wolframs noch einem<lb/>
andern Namen. Seine Anomalie im Silbenverha&#x0364;ltniß &#x017F;tieß<lb/>
vielleicht die &#x017F;pa&#x0364;tern, a&#x0364;ußerlich immer &#x017F;trengeren Mei&#x017F;ter an,<lb/>
vielleicht aber haben &#x017F;ie ihn nur gebe&#x017F;&#x017F;ert, die Stollen vo&#x0364;llig<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[62/0072] und bei Otto von Turne nach den ſieben Silben der Ab- ſchnitt deutlich zu vermerken iſt, nicht aber im alten Titurel, folglich iſt er abſichtlich eingelegt worden. Der Umſtand, daß die Caͤſuren im alten Gedicht gar nicht auf die ſpaͤtere Abaͤn- derung hindeuten, darf ja nicht uͤberſehen werden. Es ver- ſteht ſich von ſelbſt, daß Wolfram gern ein Wort inmitten der erſten oder hauptſaͤchlich zweiten alten Zeile fuͤr ſeinen einzulegenden Reim benutzte, weil er ſonſt zu viel aͤndern muͤſ- ſen, nur zuweilen, wo ſich gar nichts paſſendes vorfand, mußte er in beiden neue Reime ſetzen. In der Regel kann man da- her annehmen, daß ſeine zwei erſten Zeilen am meiſten vom alten Text weichen und eine gewiſſe Steifheit verrathen. Wenn es ſich nun fragt: warum hat Wolfram uͤber- haupt nicht den alten Bau gelaſſen, da ſeine Neuerung der Sache ſelbſt gar nicht nutzte und ſichtlich einige fließende Wen- dungen verdrehte? Die Antwort darauf iſt meiner Abſicht ge- rade willkommen, denn ich wuͤßte keine zu geben, als: er ſuchte das Princip des Meiſterſangs klaͤrer herauszuheben und aus- zugleichen 44). Es muß uns befremden, daß der beruͤhmte Ton eines ſo großen Meiſters ſpaͤterhin ungebraͤuchlich geworden; er findet ſich in Fuͤterers, Labers und Puͤterichs Gedichten, und in einigen noch aͤlteren Minneliedern im weimar. Cod., Cod. vatic. 348. und in Nyerups Symb. Allein in keinem der mir bekann- ten Meiſtergeſangbuͤcher, weder unter Wolframs noch einem andern Namen. Seine Anomalie im Silbenverhaͤltniß ſtieß vielleicht die ſpaͤtern, aͤußerlich immer ſtrengeren Meiſter an, vielleicht aber haben ſie ihn nur gebeſſert, die Stollen voͤllig 44) Warum wurde aber der Ton des Nibelungen in den unſeres H. B. aufgeloͤſt? Auch, um die Forderung des Meiſtergeſangs zu erfuͤllen? Das will ich nicht ſogleich verwerfen, obſchon ſich noch einige Einwendungen machen laſſen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_meistergesang_1811
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_meistergesang_1811/72
Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811, S. 62. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_meistergesang_1811/72>, abgerufen am 23.04.2024.