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Grimm, Albert Ludwig: Die malerischen und romantischen Stellen des Odenwaldes. Darmstadt, 1843.

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verkleidet mit ihrem Vater aus der Heimath auf die Wallfahrt. Sie nannte sich Joseph. Ein gedungener Knecht folgte ihnen.

Allein auf der langen Seereise starb ihr Vater. Dennoch setzte sie in ihrer Verlassenheit die Reise fort, gelangte glücklich nach Palästina und besuchte schon mit andachtsvollem Gemüthe die heiligen Stellen, wo der Herr einst gewandelt, gelehrt und gewirkt hatte. Noch war sie aber nicht nach Jerusalem gekommen, als eines Tages ihr Knecht mit all ihrer Habe entwich, und sie fremd und arm in dem fremden Lande zurückliess.

Ein frommer Mann sah ihre Noth, und mitleidig nahm er den jungen Pilgerknaben mit sich nach Jerusalem, und führte ihn zu den Tempelherren. Diese behielten ihn ein ganzes Jahr bei sich, bis sie endlich in einem Landsmann einen Begleiter für ihn fanden, der ihn nach Köln zurück brachte. Obgleich der Heimath nahe, war Hildegunde doch in Köln ganz fremd. Sie behielt ihre Kleidung und den Namen Joseph bei, und trat, hilflos, wie sie war, bei einem Kanonikus in Dienste.

Geschäffte riefen diesen bald darauf nach Rom. Er machte die Reise zu Pferde und sein Diener musste ihm zu Fusse folgen. Da gesellte sich auf freiem Felde einst ein Mann zu ihm, der einen Sack auf seinem Rücken trug. Sie waren eine gute Strecke mit einander gegangen, als ihnen einige Männer eilig nachfolgten. "Willst du nicht so gut sein", sprach da sein Reisegefährte zu ihm, "meinen Sack eine kleine Strecke zu tragen? dort im Walde will ich mir nur einen Reisestecken schneiden. Geh indessen nur langsam weiter; ich hole dich bald wieder ein."

Nichts Arges ahnend, nahm ihm der gutmüthige Joseph den Sack ab, hängte ihn auf seinen Rücken, und schritt damit langsam weiter, während der Gefährte schnell nach dem nahen Walde seitwärts hineilte und in dem Dickicht desselben verschwand.

Die nacheilenden Männer waren inzwischen näher und näher gekommen, und deutlich hörte er sie unter einander rufen: "Haltet den Dieb!" Joseph sah sich bei solchem Rufe um, den Dieb mit den Augen suchend, der da gehalten werden sollte. Da er aber niemand sah, hielt er das Ganze für einen Scherz und schritt langsam weiter. Jetzt hatten sie ihn aber erreicht und fielen mit Ungestüm über ihn her, nahmen ihm den Sack ab, und führten ihn mit Schlagen und Stossen nach dem nächsten Städtchen.

verkleidet mit ihrem Vater aus der Heimath auf die Wallfahrt. Sie nannte sich Joseph. Ein gedungener Knecht folgte ihnen.

Allein auf der langen Seereise starb ihr Vater. Dennoch setzte sie in ihrer Verlassenheit die Reise fort, gelangte glücklich nach Palästina und besuchte schon mit andachtsvollem Gemüthe die heiligen Stellen, wo der Herr einst gewandelt, gelehrt und gewirkt hatte. Noch war sie aber nicht nach Jerusalem gekommen, als eines Tages ihr Knecht mit all ihrer Habe entwich, und sie fremd und arm in dem fremden Lande zurückliess.

Ein frommer Mann sah ihre Noth, und mitleidig nahm er den jungen Pilgerknaben mit sich nach Jerusalem, und führte ihn zu den Tempelherren. Diese behielten ihn ein ganzes Jahr bei sich, bis sie endlich in einem Landsmann einen Begleiter für ihn fanden, der ihn nach Köln zurück brachte. Obgleich der Heimath nahe, war Hildegunde doch in Köln ganz fremd. Sie behielt ihre Kleidung und den Namen Joseph bei, und trat, hilflos, wie sie war, bei einem Kanonikus in Dienste.

Geschäffte riefen diesen bald darauf nach Rom. Er machte die Reise zu Pferde und sein Diener musste ihm zu Fusse folgen. Da gesellte sich auf freiem Felde einst ein Mann zu ihm, der einen Sack auf seinem Rücken trug. Sie waren eine gute Strecke mit einander gegangen, als ihnen einige Männer eilig nachfolgten. „Willst du nicht so gut sein“, sprach da sein Reisegefährte zu ihm, „meinen Sack eine kleine Strecke zu tragen? dort im Walde will ich mir nur einen Reisestecken schneiden. Geh indessen nur langsam weiter; ich hole dich bald wieder ein.“

Nichts Arges ahnend, nahm ihm der gutmüthige Joseph den Sack ab, hängte ihn auf seinen Rücken, und schritt damit langsam weiter, während der Gefährte schnell nach dem nahen Walde seitwärts hineilte und in dem Dickicht desselben verschwand.

Die nacheilenden Männer waren inzwischen näher und näher gekommen, und deutlich hörte er sie unter einander rufen: „Haltet den Dieb!“ Joseph sah sich bei solchem Rufe um, den Dieb mit den Augen suchend, der da gehalten werden sollte. Da er aber niemand sah, hielt er das Ganze für einen Scherz und schritt langsam weiter. Jetzt hatten sie ihn aber erreicht und fielen mit Ungestüm über ihn her, nahmen ihm den Sack ab, und führten ihn mit Schlagen und Stossen nach dem nächsten Städtchen.

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[63/0063] verkleidet mit ihrem Vater aus der Heimath auf die Wallfahrt. Sie nannte sich Joseph. Ein gedungener Knecht folgte ihnen. Allein auf der langen Seereise starb ihr Vater. Dennoch setzte sie in ihrer Verlassenheit die Reise fort, gelangte glücklich nach Palästina und besuchte schon mit andachtsvollem Gemüthe die heiligen Stellen, wo der Herr einst gewandelt, gelehrt und gewirkt hatte. Noch war sie aber nicht nach Jerusalem gekommen, als eines Tages ihr Knecht mit all ihrer Habe entwich, und sie fremd und arm in dem fremden Lande zurückliess. Ein frommer Mann sah ihre Noth, und mitleidig nahm er den jungen Pilgerknaben mit sich nach Jerusalem, und führte ihn zu den Tempelherren. Diese behielten ihn ein ganzes Jahr bei sich, bis sie endlich in einem Landsmann einen Begleiter für ihn fanden, der ihn nach Köln zurück brachte. Obgleich der Heimath nahe, war Hildegunde doch in Köln ganz fremd. Sie behielt ihre Kleidung und den Namen Joseph bei, und trat, hilflos, wie sie war, bei einem Kanonikus in Dienste. Geschäffte riefen diesen bald darauf nach Rom. Er machte die Reise zu Pferde und sein Diener musste ihm zu Fusse folgen. Da gesellte sich auf freiem Felde einst ein Mann zu ihm, der einen Sack auf seinem Rücken trug. Sie waren eine gute Strecke mit einander gegangen, als ihnen einige Männer eilig nachfolgten. „Willst du nicht so gut sein“, sprach da sein Reisegefährte zu ihm, „meinen Sack eine kleine Strecke zu tragen? dort im Walde will ich mir nur einen Reisestecken schneiden. Geh indessen nur langsam weiter; ich hole dich bald wieder ein.“ Nichts Arges ahnend, nahm ihm der gutmüthige Joseph den Sack ab, hängte ihn auf seinen Rücken, und schritt damit langsam weiter, während der Gefährte schnell nach dem nahen Walde seitwärts hineilte und in dem Dickicht desselben verschwand. Die nacheilenden Männer waren inzwischen näher und näher gekommen, und deutlich hörte er sie unter einander rufen: „Haltet den Dieb!“ Joseph sah sich bei solchem Rufe um, den Dieb mit den Augen suchend, der da gehalten werden sollte. Da er aber niemand sah, hielt er das Ganze für einen Scherz und schritt langsam weiter. Jetzt hatten sie ihn aber erreicht und fielen mit Ungestüm über ihn her, nahmen ihm den Sack ab, und führten ihn mit Schlagen und Stossen nach dem nächsten Städtchen.

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Zitationshilfe: Grimm, Albert Ludwig: Die malerischen und romantischen Stellen des Odenwaldes. Darmstadt, 1843, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_odenwald_1843/63>, abgerufen am 25.04.2024.