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Günther, Karl Gottlob: Europäisches Völkerrecht in Friedenszeiten nach Vernunft, Verträgen und Herkommen, mit Anwendung auf die teutschen Reichsstände. Bd. 1. Altenburg, 1787.

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Von der Macht der Nazionen
a] Wolf J. G. c. VI. §. 643. Huldenburg am ang. O.
c. III. §. 9. 10.
b] Lehmann c. II. §. 52. u. 55.
§. 14.
Rechtmässigkeit des Gleichgewichts.

Eine andere wichtige Frage ist es, ob das System
des Gleichgewichts sich mit den Grundsätzen der Gerech-
tigkeit vertrage? Dasselbe soll den allzugroßen Anwuchs
einer Macht, selbst wenn sie auf die rechtmässigste Art
erlangt werden könte, einschränken, da doch die Gesetze
der Natur iede ohne Beleidigung anderer zu erlangende
Vergrösserung nicht nur erlauben, sondern sogar verlan-
gen. Nun beleidigt aber die Erweiterung der Macht
einer Nazion an und vor sich die Gerechtsame anderer
nicht, weil man von der Kraft zu schaden noch nicht auf
die Würklichkeit schliessen kan. Allein die Nazionen
haben auch noch eine andere wichtige Pflicht, die Sorge
für ihre Erhaltung und Sicherheit auf sich, die, wenn
sie mit der Vergrößerungspflicht zusammentrift, ohnstrei-
tig die Oberhand behalten muß. Sie ist sowohl im ur-
sprünglich natürlichen, als im geselschaftlichen Zustande
das erste Gesetz der Völker, welches sie berechtigt und
verbindet, selbst gegen eine gegründete Furcht und ge-
gen den höchsten Grad der Wahrscheinlichkeit dienliche
Vorkehrungen zu treffen, die iedoch, so lange als es auf
irgend eine Art möglich, keinem andern Rechte der Na-
zionen zu nahe treten dürfen. Besonders ist in einer
engern Verbindung mehrerer Völker auf die Erhaltung
der gemeinschaftlichen Sicherheit und Ruhe hauptsächlich
Rücksicht zu nehmen und alles aus dem Wege zu räumen,
was diesem Zwecke der Geselschaft entgegen ist. Daß
eine überwiegende Macht nur zu oft zum Schaden und

zur
Von der Macht der Nazionen
a] Wolf J. G. c. VI. §. 643. Huldenburg am ang. O.
c. III. §. 9. 10.
b] Lehmann c. II. §. 52. u. 55.
§. 14.
Rechtmaͤſſigkeit des Gleichgewichts.

Eine andere wichtige Frage iſt es, ob das Syſtem
des Gleichgewichts ſich mit den Grundſaͤtzen der Gerech-
tigkeit vertrage? Daſſelbe ſoll den allzugroßen Anwuchs
einer Macht, ſelbſt wenn ſie auf die rechtmaͤſſigſte Art
erlangt werden koͤnte, einſchraͤnken, da doch die Geſetze
der Natur iede ohne Beleidigung anderer zu erlangende
Vergroͤſſerung nicht nur erlauben, ſondern ſogar verlan-
gen. Nun beleidigt aber die Erweiterung der Macht
einer Nazion an und vor ſich die Gerechtſame anderer
nicht, weil man von der Kraft zu ſchaden noch nicht auf
die Wuͤrklichkeit ſchlieſſen kan. Allein die Nazionen
haben auch noch eine andere wichtige Pflicht, die Sorge
fuͤr ihre Erhaltung und Sicherheit auf ſich, die, wenn
ſie mit der Vergroͤßerungspflicht zuſammentrift, ohnſtrei-
tig die Oberhand behalten muß. Sie iſt ſowohl im ur-
ſpruͤnglich natuͤrlichen, als im geſelſchaftlichen Zuſtande
das erſte Geſetz der Voͤlker, welches ſie berechtigt und
verbindet, ſelbſt gegen eine gegruͤndete Furcht und ge-
gen den hoͤchſten Grad der Wahrſcheinlichkeit dienliche
Vorkehrungen zu treffen, die iedoch, ſo lange als es auf
irgend eine Art moͤglich, keinem andern Rechte der Na-
zionen zu nahe treten duͤrfen. Beſonders iſt in einer
engern Verbindung mehrerer Voͤlker auf die Erhaltung
der gemeinſchaftlichen Sicherheit und Ruhe hauptſaͤchlich
Ruͤckſicht zu nehmen und alles aus dem Wege zu raͤumen,
was dieſem Zwecke der Geſelſchaft entgegen iſt. Daß
eine uͤberwiegende Macht nur zu oft zum Schaden und

zur
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[360/0386] Von der Macht der Nazionen a] Wolf J. G. c. VI. §. 643. Huldenburg am ang. O. c. III. §. 9. 10. b] Lehmann c. II. §. 52. u. 55. §. 14. Rechtmaͤſſigkeit des Gleichgewichts. Eine andere wichtige Frage iſt es, ob das Syſtem des Gleichgewichts ſich mit den Grundſaͤtzen der Gerech- tigkeit vertrage? Daſſelbe ſoll den allzugroßen Anwuchs einer Macht, ſelbſt wenn ſie auf die rechtmaͤſſigſte Art erlangt werden koͤnte, einſchraͤnken, da doch die Geſetze der Natur iede ohne Beleidigung anderer zu erlangende Vergroͤſſerung nicht nur erlauben, ſondern ſogar verlan- gen. Nun beleidigt aber die Erweiterung der Macht einer Nazion an und vor ſich die Gerechtſame anderer nicht, weil man von der Kraft zu ſchaden noch nicht auf die Wuͤrklichkeit ſchlieſſen kan. Allein die Nazionen haben auch noch eine andere wichtige Pflicht, die Sorge fuͤr ihre Erhaltung und Sicherheit auf ſich, die, wenn ſie mit der Vergroͤßerungspflicht zuſammentrift, ohnſtrei- tig die Oberhand behalten muß. Sie iſt ſowohl im ur- ſpruͤnglich natuͤrlichen, als im geſelſchaftlichen Zuſtande das erſte Geſetz der Voͤlker, welches ſie berechtigt und verbindet, ſelbſt gegen eine gegruͤndete Furcht und ge- gen den hoͤchſten Grad der Wahrſcheinlichkeit dienliche Vorkehrungen zu treffen, die iedoch, ſo lange als es auf irgend eine Art moͤglich, keinem andern Rechte der Na- zionen zu nahe treten duͤrfen. Beſonders iſt in einer engern Verbindung mehrerer Voͤlker auf die Erhaltung der gemeinſchaftlichen Sicherheit und Ruhe hauptſaͤchlich Ruͤckſicht zu nehmen und alles aus dem Wege zu raͤumen, was dieſem Zwecke der Geſelſchaft entgegen iſt. Daß eine uͤberwiegende Macht nur zu oft zum Schaden und zur

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Zitationshilfe: Günther, Karl Gottlob: Europäisches Völkerrecht in Friedenszeiten nach Vernunft, Verträgen und Herkommen, mit Anwendung auf die teutschen Reichsstände. Bd. 1. Altenburg, 1787, S. 360. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/guenther_voelkerrecht01_1787/386>, abgerufen am 28.03.2024.