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Günther, Karl Gottlob: Europäisches Völkerrecht in Friedenszeiten nach Vernunft, Verträgen und Herkommen, mit Anwendung auf die teutschen Reichsstände. Bd. 1. Altenburg, 1787.

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Von dem Völkerrechte überhaupt,
§. 35.
Völkerrechts Studium und dessen Methode.

Das Studium des Völkerrechts beschäftigt sich mit
Erkentnis der algemeinen Wahrheiten durch Vernunft-
schlüsse, mit der richtigen und zweckmäßigen Erklärung
der unter den Nazionen geschlossenen Verträge, mit Be-
richtigung der zum Herkommen erforderlichen Handlun-
gen und mit Vergleichung ähnlicher Fälle bey der Analo-
gie. Die Grundsätze des algemeinen Völkerrechts kön-
nen, der bisherigen Gewonheit nach, zwar füglich beim
Vortrage des Naturrechts gleich mitgenommen werden;
es würde aber zu weitläuftig seyn, diesem auch das posi-
tive, nach seinem ganzen Umfange, beizufügen: so wie
der Unterricht sehr unvolkommen wäre, wenn man, nach
Wolf, Vattels und Andrer Vorschläge, in Ansehung
des leztern, mit dem sich begnügen wolte, was in der
Staatenhistorie und Statistick davon angemerkt wird.
Die beste Methode des Vortrags scheint mir diese zu
seyn, daß man, nach vorausgeschickten Grundsätzen
des algemeinen Völkerrechts, die Abweichungen des po-
sitiven aus den Verträgen und Herkommen der europäi-
schen Staaten und deren Analogie bemerke. Jenes
bleibt allemal die Regel, welche in Ermangelung einer
Ausnahme, d. i. eines Vertrags oder Herkommens im-
mer ihre Anwendung behält. Weder die Ausnahme von
der Regel, noch diese von iener ist füglich zu trennen
und eine ohne die andre zu verstehen.

*] Die Grundsätze des algemeinen und europäischen Völker-
rechts können und sollen, nach dem Urteile des Herrn
Etatsrath Mosers in thesi zwar beisammenstehen, collidi-
ren aber in praxi oft mit einander: Daher seine Gering-
schätzung des natürlichen Völkerrechts! Sind aber gleich
manche Sätze desselben ungewis, so ist doch deshalb die
Von dem Voͤlkerrechte uͤberhaupt,
§. 35.
Voͤlkerrechts Studium und deſſen Methode.

Das Studium des Voͤlkerrechts beſchaͤftigt ſich mit
Erkentnis der algemeinen Wahrheiten durch Vernunft-
ſchluͤſſe, mit der richtigen und zweckmaͤßigen Erklaͤrung
der unter den Nazionen geſchloſſenen Vertraͤge, mit Be-
richtigung der zum Herkommen erforderlichen Handlun-
gen und mit Vergleichung aͤhnlicher Faͤlle bey der Analo-
gie. Die Grundſaͤtze des algemeinen Voͤlkerrechts koͤn-
nen, der bisherigen Gewonheit nach, zwar fuͤglich beim
Vortrage des Naturrechts gleich mitgenommen werden;
es wuͤrde aber zu weitlaͤuftig ſeyn, dieſem auch das poſi-
tive, nach ſeinem ganzen Umfange, beizufuͤgen: ſo wie
der Unterricht ſehr unvolkommen waͤre, wenn man, nach
Wolf, Vattels und Andrer Vorſchlaͤge, in Anſehung
des leztern, mit dem ſich begnuͤgen wolte, was in der
Staatenhiſtorie und Statiſtick davon angemerkt wird.
Die beſte Methode des Vortrags ſcheint mir dieſe zu
ſeyn, daß man, nach vorausgeſchickten Grundſaͤtzen
des algemeinen Voͤlkerrechts, die Abweichungen des po-
ſitiven aus den Vertraͤgen und Herkommen der europaͤi-
ſchen Staaten und deren Analogie bemerke. Jenes
bleibt allemal die Regel, welche in Ermangelung einer
Ausnahme, d. i. eines Vertrags oder Herkommens im-
mer ihre Anwendung behaͤlt. Weder die Ausnahme von
der Regel, noch dieſe von iener iſt fuͤglich zu trennen
und eine ohne die andre zu verſtehen.

*] Die Grundſaͤtze des algemeinen und europaͤiſchen Voͤlker-
rechts koͤnnen und ſollen, nach dem Urteile des Herrn
Etatsrath Moſers in theſi zwar beiſammenſtehen, collidi-
ren aber in praxi oft mit einander: Daher ſeine Gering-
ſchaͤtzung des natuͤrlichen Voͤlkerrechts! Sind aber gleich
manche Saͤtze deſſelben ungewis, ſo iſt doch deshalb die
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[68/0094] Von dem Voͤlkerrechte uͤberhaupt, §. 35. Voͤlkerrechts Studium und deſſen Methode. Das Studium des Voͤlkerrechts beſchaͤftigt ſich mit Erkentnis der algemeinen Wahrheiten durch Vernunft- ſchluͤſſe, mit der richtigen und zweckmaͤßigen Erklaͤrung der unter den Nazionen geſchloſſenen Vertraͤge, mit Be- richtigung der zum Herkommen erforderlichen Handlun- gen und mit Vergleichung aͤhnlicher Faͤlle bey der Analo- gie. Die Grundſaͤtze des algemeinen Voͤlkerrechts koͤn- nen, der bisherigen Gewonheit nach, zwar fuͤglich beim Vortrage des Naturrechts gleich mitgenommen werden; es wuͤrde aber zu weitlaͤuftig ſeyn, dieſem auch das poſi- tive, nach ſeinem ganzen Umfange, beizufuͤgen: ſo wie der Unterricht ſehr unvolkommen waͤre, wenn man, nach Wolf, Vattels und Andrer Vorſchlaͤge, in Anſehung des leztern, mit dem ſich begnuͤgen wolte, was in der Staatenhiſtorie und Statiſtick davon angemerkt wird. Die beſte Methode des Vortrags ſcheint mir dieſe zu ſeyn, daß man, nach vorausgeſchickten Grundſaͤtzen des algemeinen Voͤlkerrechts, die Abweichungen des po- ſitiven aus den Vertraͤgen und Herkommen der europaͤi- ſchen Staaten und deren Analogie bemerke. Jenes bleibt allemal die Regel, welche in Ermangelung einer Ausnahme, d. i. eines Vertrags oder Herkommens im- mer ihre Anwendung behaͤlt. Weder die Ausnahme von der Regel, noch dieſe von iener iſt fuͤglich zu trennen und eine ohne die andre zu verſtehen. *] Die Grundſaͤtze des algemeinen und europaͤiſchen Voͤlker- rechts koͤnnen und ſollen, nach dem Urteile des Herrn Etatsrath Moſers in theſi zwar beiſammenſtehen, collidi- ren aber in praxi oft mit einander: Daher ſeine Gering- ſchaͤtzung des natuͤrlichen Voͤlkerrechts! Sind aber gleich manche Saͤtze deſſelben ungewis, ſo iſt doch deshalb die ganze

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Zitationshilfe: Günther, Karl Gottlob: Europäisches Völkerrecht in Friedenszeiten nach Vernunft, Verträgen und Herkommen, mit Anwendung auf die teutschen Reichsstände. Bd. 1. Altenburg, 1787, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/guenther_voelkerrecht01_1787/94>, abgerufen am 28.03.2024.