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[Gutzkow, Karl:] Briefe eines Narren an eine Närrin. Hamburg, 1832.

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Thema, und meine Empfindungen zu dessen Variationen mache.

Du hast mir ein Boot geschickt, auf dem wir eine ferne Insel suchen wollten. Aber warum ist der Mast auf ihm nicht so hoch, daß ich die Welt im verjüngten Maßstabe sehe? daß ich einen Punkt habe, von dem ich Alles und Alles zugleich sähe? warum ist überhaupt kein Mast darauf?

Du wirst mich ungeduldig nennen, Deine Liebe wird mich tadeln wollen, aber ich bin ein Kind meiner Zeit, und heut' einmal gerade stolz darauf. Gegen die Wind- und Wetterhosen, in denen die Jahrhunderte über die Erde schreiten, gehen wir ewig in den Kinderröcken, und treten die ersten Schuhe nicht aus. Die größten Ideen, die die Geschichte aufweisen kann, waren für die, die in ihnen lebten, nur Spielzeug. Ich werde die Wahrheit nie lieben, ohne auch an ihr meine Freude zu haben. Und da das Letztere in unsern heißen Tagen unmöglich ist, so wird die Wahrheit, wenn nicht gehaßt, doch nicht gesucht. Es fehlt unserer Zeit ein Ideenhanswurst, ich vermag die Tage, die einen solchen besaßen, zu preisen, und bin mit der Gegenwart doch zufrieden.

Du sprachst die Wahrheit. Es lebten einst Völker, die jedes Wort aus dem Munde ihres

Thema, und meine Empfindungen zu dessen Variationen mache.

Du hast mir ein Boot geschickt, auf dem wir eine ferne Insel suchen wollten. Aber warum ist der Mast auf ihm nicht so hoch, daß ich die Welt im verjüngten Maßstabe sehe? daß ich einen Punkt habe, von dem ich Alles und Alles zugleich sähe? warum ist überhaupt kein Mast darauf?

Du wirst mich ungeduldig nennen, Deine Liebe wird mich tadeln wollen, aber ich bin ein Kind meiner Zeit, und heut’ einmal gerade stolz darauf. Gegen die Wind- und Wetterhosen, in denen die Jahrhunderte über die Erde schreiten, gehen wir ewig in den Kinderröcken, und treten die ersten Schuhe nicht aus. Die größten Ideen, die die Geschichte aufweisen kann, waren für die, die in ihnen lebten, nur Spielzeug. Ich werde die Wahrheit nie lieben, ohne auch an ihr meine Freude zu haben. Und da das Letztere in unsern heißen Tagen unmöglich ist, so wird die Wahrheit, wenn nicht gehaßt, doch nicht gesucht. Es fehlt unserer Zeit ein Ideenhanswurst, ich vermag die Tage, die einen solchen besaßen, zu preisen, und bin mit der Gegenwart doch zufrieden.

Du sprachst die Wahrheit. Es lebten einst Völker, die jedes Wort aus dem Munde ihres

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[3/0016] Thema, und meine Empfindungen zu dessen Variationen mache. Du hast mir ein Boot geschickt, auf dem wir eine ferne Insel suchen wollten. Aber warum ist der Mast auf ihm nicht so hoch, daß ich die Welt im verjüngten Maßstabe sehe? daß ich einen Punkt habe, von dem ich Alles und Alles zugleich sähe? warum ist überhaupt kein Mast darauf? Du wirst mich ungeduldig nennen, Deine Liebe wird mich tadeln wollen, aber ich bin ein Kind meiner Zeit, und heut’ einmal gerade stolz darauf. Gegen die Wind- und Wetterhosen, in denen die Jahrhunderte über die Erde schreiten, gehen wir ewig in den Kinderröcken, und treten die ersten Schuhe nicht aus. Die größten Ideen, die die Geschichte aufweisen kann, waren für die, die in ihnen lebten, nur Spielzeug. Ich werde die Wahrheit nie lieben, ohne auch an ihr meine Freude zu haben. Und da das Letztere in unsern heißen Tagen unmöglich ist, so wird die Wahrheit, wenn nicht gehaßt, doch nicht gesucht. Es fehlt unserer Zeit ein Ideenhanswurst, ich vermag die Tage, die einen solchen besaßen, zu preisen, und bin mit der Gegenwart doch zufrieden. Du sprachst die Wahrheit. Es lebten einst Völker, die jedes Wort aus dem Munde ihres

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Zitationshilfe: [Gutzkow, Karl:] Briefe eines Narren an eine Närrin. Hamburg, 1832, S. 3. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_narren_1832/16>, abgerufen am 20.04.2024.