Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Gutzkow, Karl:] Briefe eines Narren an eine Närrin. Hamburg, 1832.

Bild:
<< vorherige Seite

zitternden Blätter suchten, hielt sich grünes Wiesengras in bescheidener Ferne. Im Vorübergehen übersah ich keine Blume, schon schmückte der schönste Strauß meinen Hut. Während ich so unter Gesang und Selbstgespräch rüstig weiter schritt, fiel endlich mein Blick auf das jenseitige Ufer des Baches. Es schlich mir etwas Dunkles nach, das ich in der noch tiefen Morgendämmerung nicht zu unterscheiden vermochte. Erst glaubt' ich meinen Schatten zu sehen. Der war mir von jeher der fatalste Gesell. Schon in meiner Jugend machte mich mein Schatten oft schwermüthig; ich wollte gern über ihn wegspringen, und versuchte dies mit den possirlichsten Biegungen und Wendungen. Oft ging ich aufs Feld hinaus, lief eine Weile im Sonnenschein, mich zwingend, an den Schatten nicht zu denken; dann aber sprang ich plötzlich auf, weil ich nämlich so hoffte, den Schatten überrascht zu haben. Heute ging aber der vermeinte Schatten auch dann weiter, wenn ich still stand. Bald erkannt' ich einen Mann, der mich freundlich über den Bach grüßte. Von unsern beiderseitigen Ufern sprachen wir viel von den noch schlummernden Menschen, ihren Träumen, ihrem Alpdrücken, von frischer Morgenluft, von Hahnenschrei. Jetzt ward aber die Gegend immer heller, und endlich verwandelte sie meinen Begleiter in

zitternden Blätter suchten, hielt sich grünes Wiesengras in bescheidener Ferne. Im Vorübergehen übersah ich keine Blume, schon schmückte der schönste Strauß meinen Hut. Während ich so unter Gesang und Selbstgespräch rüstig weiter schritt, fiel endlich mein Blick auf das jenseitige Ufer des Baches. Es schlich mir etwas Dunkles nach, das ich in der noch tiefen Morgendämmerung nicht zu unterscheiden vermochte. Erst glaubt’ ich meinen Schatten zu sehen. Der war mir von jeher der fatalste Gesell. Schon in meiner Jugend machte mich mein Schatten oft schwermüthig; ich wollte gern über ihn wegspringen, und versuchte dies mit den possirlichsten Biegungen und Wendungen. Oft ging ich aufs Feld hinaus, lief eine Weile im Sonnenschein, mich zwingend, an den Schatten nicht zu denken; dann aber sprang ich plötzlich auf, weil ich nämlich so hoffte, den Schatten überrascht zu haben. Heute ging aber der vermeinte Schatten auch dann weiter, wenn ich still stand. Bald erkannt’ ich einen Mann, der mich freundlich über den Bach grüßte. Von unsern beiderseitigen Ufern sprachen wir viel von den noch schlummernden Menschen, ihren Träumen, ihrem Alpdrücken, von frischer Morgenluft, von Hahnenschrei. Jetzt ward aber die Gegend immer heller, und endlich verwandelte sie meinen Begleiter in

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0245" n="232"/>
zitternden Blätter suchten, hielt sich grünes Wiesengras in bescheidener Ferne. Im Vorübergehen übersah ich keine Blume, schon schmückte der schönste Strauß meinen Hut. Während ich so unter Gesang und Selbstgespräch rüstig weiter schritt, fiel endlich mein Blick auf das jenseitige Ufer des Baches. Es schlich mir etwas Dunkles nach, das ich in der noch tiefen Morgendämmerung nicht zu unterscheiden vermochte. Erst glaubt&#x2019; ich meinen Schatten zu sehen. Der war mir von jeher der fatalste Gesell. Schon in meiner Jugend machte mich mein Schatten oft schwermüthig; ich wollte gern über ihn wegspringen, und versuchte dies mit den possirlichsten Biegungen und Wendungen. Oft ging ich aufs Feld hinaus, lief eine Weile im Sonnenschein, mich zwingend, an den Schatten nicht zu denken; dann aber sprang ich plötzlich auf, weil ich nämlich so hoffte, den Schatten überrascht zu haben. Heute ging aber der vermeinte Schatten auch dann weiter, wenn ich still stand. Bald erkannt&#x2019; ich einen Mann, der mich freundlich über den Bach grüßte. Von unsern beiderseitigen Ufern sprachen wir viel von den noch schlummernden Menschen, ihren Träumen, ihrem Alpdrücken, von frischer Morgenluft, von Hahnenschrei. Jetzt ward aber die Gegend immer heller, und endlich verwandelte sie meinen Begleiter in
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[232/0245] zitternden Blätter suchten, hielt sich grünes Wiesengras in bescheidener Ferne. Im Vorübergehen übersah ich keine Blume, schon schmückte der schönste Strauß meinen Hut. Während ich so unter Gesang und Selbstgespräch rüstig weiter schritt, fiel endlich mein Blick auf das jenseitige Ufer des Baches. Es schlich mir etwas Dunkles nach, das ich in der noch tiefen Morgendämmerung nicht zu unterscheiden vermochte. Erst glaubt’ ich meinen Schatten zu sehen. Der war mir von jeher der fatalste Gesell. Schon in meiner Jugend machte mich mein Schatten oft schwermüthig; ich wollte gern über ihn wegspringen, und versuchte dies mit den possirlichsten Biegungen und Wendungen. Oft ging ich aufs Feld hinaus, lief eine Weile im Sonnenschein, mich zwingend, an den Schatten nicht zu denken; dann aber sprang ich plötzlich auf, weil ich nämlich so hoffte, den Schatten überrascht zu haben. Heute ging aber der vermeinte Schatten auch dann weiter, wenn ich still stand. Bald erkannt’ ich einen Mann, der mich freundlich über den Bach grüßte. Von unsern beiderseitigen Ufern sprachen wir viel von den noch schlummernden Menschen, ihren Träumen, ihrem Alpdrücken, von frischer Morgenluft, von Hahnenschrei. Jetzt ward aber die Gegend immer heller, und endlich verwandelte sie meinen Begleiter in

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Gutzkow Editionsprojekt: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in der Syntax des Gutzkow Editionsprojekts. (2013-07-01T14:33:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus dem Gutzkow Editionsprojekt entsprechen muss.
Google Books: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2013-07-01T14:33:31Z)
Frederike Neuber: Konvertierung vom Markup des Gutzkow Editionsprojekts nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2013-07-01T14:33:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Als Grundlage dienen die Gutzkow Editionsprojekt:Editionsprinzipien
  • Langes s (ſ) wird als rundes s (s) wiedergegeben.
  • Übergeschriebenes „e“ über „a“, „o“ und „u“ wird als „ä“, „ö“, „ü“ transkribiert.
  • Die Majuskel J im Frakturdruck wird in der Transkription je nach Lautwert als I bzw. J wiedergegeben.
  • Zeilenumbrüche innerhalb eines Absatzes werden aufgelöst.
  • Silbentrennungen über Zeilengrenzen hinweg werden aufgelöst.
  • Silbentrennungen über Seitengrenzen hinweg werden beibehalten.
  • Anmerkungen und Erläuterungen der Herausgeber der Gutzkow-Edition sind im XML mit <ref target="[Ziel]">...</ref> wiedergegeben. [Ziel] benennt die HTM-Datei und den Abschnitt der jeweiligen Erläuterung auf den Seiten des Gutzkow-Editionsprojekts.
  • Druckfehler und andere Fehler der Vorlage wurden in der Transkription behoben. Zu den hierbei vorgenommenen Textänderungen und zu problematischen Textstellen siehe Abschnitt 2.1.1: Textänderungen auf den Seiten des Gutzkow-Editionsprojekts.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_narren_1832
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_narren_1832/245
Zitationshilfe: [Gutzkow, Karl:] Briefe eines Narren an eine Närrin. Hamburg, 1832, S. 232. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_narren_1832/245>, abgerufen am 28.03.2024.