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Haeckel, Ernst: Die Perigenesis der Plastidule oder die Wellenerzeugung der Lebenstheilchen. Berlin, 1876.

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dem das ganze Verständniss der Biologie abhängt, wird
durch die Entwickelungsgeschichte gerechtfertigt. Jeder
höhere und jeder niedere vielzellige Organismus entwickelt
sich ursprünglich aus einer einzigen Zelle, aus der Eizelle;
und wie wir diesen einzelligen Ursprung an jedem Indivi¬
duum unmittelbar beobachten können, so dürfen wir ihn
für jeden organischen Stamm, für jede Gruppe von stamm¬
verwandten Arten unbedenklich annehmen. Die empirisch
nachgewiesene einzellige Keimform ist nach unserem bio¬
genetischen Grundgesetze die Wiederholung einer ent¬
sprechenden, ausgestorbenen, unbekannten Stammform. Die
Beschaffenheit solcher einzelligen Stammformen wird uns
wieder vortrefflich erläutert durch die zahlreichen, heute
noch lebenden einzelligen Organismen, z.B. die Amoeben,
Flagellaten, Diatomeen u. s. w. Das sind wilde Einsiedler,
die ihr freies, selbstständiges Leben als Einzelzelle beibe¬
halten und sich nicht zur Association und Staatenbildung
entschliessen können.

Festhaltend an diesem cellular-politischen Grundge¬
danken, der den eigentlichen Schwerpunkt für das Ver¬
ständniss der Zellen-Theorie bildet, müssen wir nun die
wichtigsten Wandelungen kurz berühren, welche die letztere
in neuester Zeit erlitten hat. Als folgenschwerster Fort-
schritt ist da zunächst die Protoplasma-Theorie zu er¬
wähnen, welche zuerst von Ferdinand Cohn 1850 aufgestellt.
dann von Max Schultze 1861 weiter ausgebildet wurde und
in England eine ähnliche Formulirung durch Lionel Beale
1862 erfuhr. Ausgehend von der Aehnlichkeit, welche
unter dem Mikroskope die Structur des gewöhnlichen
Pflanzengewebes auf dem Durchschnitte mit einer Bienen¬

dem das ganze Verständniss der Biologie abhängt, wird
durch die Entwickelungsgeschichte gerechtfertigt. Jeder
höhere und jeder niedere vielzellige Organismus entwickelt
sich ursprünglich aus einer einzigen Zelle, aus der Eizelle;
und wie wir diesen einzelligen Ursprung an jedem Indivi¬
duum unmittelbar beobachten können, so dürfen wir ihn
für jeden organischen Stamm, für jede Gruppe von stamm¬
verwandten Arten unbedenklich annehmen. Die empirisch
nachgewiesene einzellige Keimform ist nach unserem bio¬
genetischen Grundgesetze die Wiederholung einer ent¬
sprechenden, ausgestorbenen, unbekannten Stammform. Die
Beschaffenheit solcher einzelligen Stammformen wird uns
wieder vortrefflich erläutert durch die zahlreichen, heute
noch lebenden einzelligen Organismen, z.B. die Amoeben,
Flagellaten, Diatomeen u. s. w. Das sind wilde Einsiedler,
die ihr freies, selbstständiges Leben als Einzelzelle beibe¬
halten und sich nicht zur Association und Staatenbildung
entschliessen können.

Festhaltend an diesem cellular-politischen Grundge¬
danken, der den eigentlichen Schwerpunkt für das Ver¬
ständniss der Zellen-Theorie bildet, müssen wir nun die
wichtigsten Wandelungen kurz berühren, welche die letztere
in neuester Zeit erlitten hat. Als folgenschwerster Fort-
schritt ist da zunächst die Protoplasma-Theorie zu er¬
wähnen, welche zuerst von Ferdinand Cohn 1850 aufgestellt.
dann von Max Schultze 1861 weiter ausgebildet wurde und
in England eine ähnliche Formulirung durch Lionel Beale
1862 erfuhr. Ausgehend von der Aehnlichkeit, welche
unter dem Mikroskope die Structur des gewöhnlichen
Pflanzengewebes auf dem Durchschnitte mit einer Bienen¬

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[22/0028] dem das ganze Verständniss der Biologie abhängt, wird durch die Entwickelungsgeschichte gerechtfertigt. Jeder höhere und jeder niedere vielzellige Organismus entwickelt sich ursprünglich aus einer einzigen Zelle, aus der Eizelle; und wie wir diesen einzelligen Ursprung an jedem Indivi¬ duum unmittelbar beobachten können, so dürfen wir ihn für jeden organischen Stamm, für jede Gruppe von stamm¬ verwandten Arten unbedenklich annehmen. Die empirisch nachgewiesene einzellige Keimform ist nach unserem bio¬ genetischen Grundgesetze die Wiederholung einer ent¬ sprechenden, ausgestorbenen, unbekannten Stammform. Die Beschaffenheit solcher einzelligen Stammformen wird uns wieder vortrefflich erläutert durch die zahlreichen, heute noch lebenden einzelligen Organismen, z.B. die Amoeben, Flagellaten, Diatomeen u. s. w. Das sind wilde Einsiedler, die ihr freies, selbstständiges Leben als Einzelzelle beibe¬ halten und sich nicht zur Association und Staatenbildung entschliessen können. Festhaltend an diesem cellular-politischen Grundge¬ danken, der den eigentlichen Schwerpunkt für das Ver¬ ständniss der Zellen-Theorie bildet, müssen wir nun die wichtigsten Wandelungen kurz berühren, welche die letztere in neuester Zeit erlitten hat. Als folgenschwerster Fort- schritt ist da zunächst die Protoplasma-Theorie zu er¬ wähnen, welche zuerst von Ferdinand Cohn 1850 aufgestellt. dann von Max Schultze 1861 weiter ausgebildet wurde und in England eine ähnliche Formulirung durch Lionel Beale 1862 erfuhr. Ausgehend von der Aehnlichkeit, welche unter dem Mikroskope die Structur des gewöhnlichen Pflanzengewebes auf dem Durchschnitte mit einer Bienen¬

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Perigenesis der Plastidule oder die Wellenerzeugung der Lebenstheilchen. Berlin, 1876, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_plastidule_1876/28>, abgerufen am 28.03.2024.