Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haeckel, Ernst: Die Perigenesis der Plastidule oder die Wellenerzeugung der Lebenstheilchen. Berlin, 1876.

Bild:
<< vorherige Seite

änderlicher Beschaffenheit und durch den hypothetischen
Aether von einander getrennt sind. Jedes Atom besitzt
eine inhärente Summe von Kraft und ist in diesem Sinne
"beseelt." Ohne die Annahme einer "Atom-Seele" sind
die gewöhnlichsten und allgemeinsten Erscheinungen der
Chemie unerklärlich. Lust und Unlust, Begierde und Ab¬
neigung, Anziehung und Abstossung müssen allen Massen-
Atomen gemeinsam sein; denn die Bewegungen der Atome,
die bei Bildung und Auflösung einer jeden chemischen
Verbindung stattfinden müssen, sind nur erklärbar, wenn
wir ihnen Empfindung und Willen beilegen. Worauf
anders beruht denn im Grunde die allgemein angenommene
chemische Lehre von der Wahlverwandtschaft der
Körper, als auf der unbewussten Voraussetzung, dass in
der That die sich anziehenden und abstossenden Atome
von bestimmten Neigungen beseelt sind, und dass sie,
diesen Empfindungen oder Trieben folgend, auch den
Willen und die Fähigkeit besitzen, sich zu einander hin
und von einander fort zu bewegen? Was Goethe in seinen
"Wahlverwandtschaften" über diese Verhältnisse sagt und
von dem elementaren Seelenleben der Atome auf das
höchst zusammengesetzte Seelenleben des Menschen über¬
trägt, das besitzt volle Wahrheit; und wenn in diesem
classischen Roman die "Wahlverwandtschaft" als die eigent¬
liche Triebfeder der menschlichen Handlungen und der aus
ihnen zusammengesetzten "Weltgeschichte" hingestellt
wird, so ist damit von dem grossen Denker und Dichter
in tiefsinnigster Weise die mechanische Natur auch der
verwickeltsten organischen Processe treffend angedeutet.
Wenn der "Wille" des Menschen und der höheren

änderlicher Beschaffenheit und durch den hypothetischen
Aether von einander getrennt sind. Jedes Atom besitzt
eine inhärente Summe von Kraft und ist in diesem Sinne
„beseelt.“ Ohne die Annahme einer „Atom-Seele“ sind
die gewöhnlichsten und allgemeinsten Erscheinungen der
Chemie unerklärlich. Lust und Unlust, Begierde und Ab¬
neigung, Anziehung und Abstossung müssen allen Massen-
Atomen gemeinsam sein; denn die Bewegungen der Atome,
die bei Bildung und Auflösung einer jeden chemischen
Verbindung stattfinden müssen, sind nur erklärbar, wenn
wir ihnen Empfindung und Willen beilegen. Worauf
anders beruht denn im Grunde die allgemein angenommene
chemische Lehre von der Wahlverwandtschaft der
Körper, als auf der unbewussten Voraussetzung, dass in
der That die sich anziehenden und abstossenden Atome
von bestimmten Neigungen beseelt sind, und dass sie,
diesen Empfindungen oder Trieben folgend, auch den
Willen und die Fähigkeit besitzen, sich zu einander hin
und von einander fort zu bewegen? Was Goethe in seinen
„Wahlverwandtschaften“ über diese Verhältnisse sagt und
von dem elementaren Seelenleben der Atome auf das
höchst zusammengesetzte Seelenleben des Menschen über¬
trägt, das besitzt volle Wahrheit; und wenn in diesem
classischen Roman die „Wahlverwandtschaft“ als die eigent¬
liche Triebfeder der menschlichen Handlungen und der aus
ihnen zusammengesetzten „Weltgeschichte“ hingestellt
wird, so ist damit von dem grossen Denker und Dichter
in tiefsinnigster Weise die mechanische Natur auch der
verwickeltsten organischen Processe treffend angedeutet.
Wenn der „Wille“ des Menschen und der höheren

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0044" n="38"/>
änderlicher Beschaffenheit und durch den hypothetischen<lb/>
Aether von einander getrennt sind. Jedes Atom besitzt<lb/>
eine inhärente Summe von Kraft und ist in diesem Sinne<lb/>
&#x201E;beseelt.&#x201C; Ohne die Annahme einer &#x201E;Atom-Seele&#x201C; sind<lb/>
die gewöhnlichsten und allgemeinsten Erscheinungen der<lb/>
Chemie unerklärlich. Lust und Unlust, Begierde und Ab¬<lb/>
neigung, Anziehung und Abstossung müssen allen Massen-<lb/>
Atomen gemeinsam sein; denn die Bewegungen der Atome,<lb/>
die bei Bildung und Auflösung einer jeden chemischen<lb/>
Verbindung stattfinden müssen, sind nur erklärbar, wenn<lb/>
wir ihnen <hi rendition="#g">Empfindung</hi> und <hi rendition="#g">Willen</hi> beilegen. Worauf<lb/>
anders beruht denn im Grunde die allgemein angenommene<lb/>
chemische Lehre von der <hi rendition="#g">Wahlverwandtschaft</hi> der<lb/>
Körper, als auf der unbewussten Voraussetzung, dass in<lb/>
der That die sich anziehenden und abstossenden Atome<lb/>
von bestimmten Neigungen beseelt sind, und dass sie,<lb/>
diesen Empfindungen oder Trieben folgend, auch den<lb/>
Willen und die Fähigkeit besitzen, sich zu einander hin<lb/>
und von einander fort zu bewegen? Was <hi rendition="#i">Goethe</hi> in seinen<lb/>
&#x201E;Wahlverwandtschaften&#x201C; über diese Verhältnisse sagt und<lb/>
von dem elementaren Seelenleben der Atome auf das<lb/>
höchst zusammengesetzte Seelenleben des Menschen über¬<lb/>
trägt, das besitzt volle Wahrheit; und wenn in diesem<lb/>
classischen Roman die &#x201E;Wahlverwandtschaft&#x201C; als die eigent¬<lb/>
liche Triebfeder der menschlichen Handlungen und der aus<lb/>
ihnen zusammengesetzten &#x201E;Weltgeschichte&#x201C; hingestellt<lb/>
wird, so ist damit von dem grossen Denker und Dichter<lb/>
in tiefsinnigster Weise die mechanische Natur auch der<lb/>
verwickeltsten organischen Processe treffend angedeutet.<lb/>
Wenn der &#x201E;Wille&#x201C; des Menschen und der höheren<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[38/0044] änderlicher Beschaffenheit und durch den hypothetischen Aether von einander getrennt sind. Jedes Atom besitzt eine inhärente Summe von Kraft und ist in diesem Sinne „beseelt.“ Ohne die Annahme einer „Atom-Seele“ sind die gewöhnlichsten und allgemeinsten Erscheinungen der Chemie unerklärlich. Lust und Unlust, Begierde und Ab¬ neigung, Anziehung und Abstossung müssen allen Massen- Atomen gemeinsam sein; denn die Bewegungen der Atome, die bei Bildung und Auflösung einer jeden chemischen Verbindung stattfinden müssen, sind nur erklärbar, wenn wir ihnen Empfindung und Willen beilegen. Worauf anders beruht denn im Grunde die allgemein angenommene chemische Lehre von der Wahlverwandtschaft der Körper, als auf der unbewussten Voraussetzung, dass in der That die sich anziehenden und abstossenden Atome von bestimmten Neigungen beseelt sind, und dass sie, diesen Empfindungen oder Trieben folgend, auch den Willen und die Fähigkeit besitzen, sich zu einander hin und von einander fort zu bewegen? Was Goethe in seinen „Wahlverwandtschaften“ über diese Verhältnisse sagt und von dem elementaren Seelenleben der Atome auf das höchst zusammengesetzte Seelenleben des Menschen über¬ trägt, das besitzt volle Wahrheit; und wenn in diesem classischen Roman die „Wahlverwandtschaft“ als die eigent¬ liche Triebfeder der menschlichen Handlungen und der aus ihnen zusammengesetzten „Weltgeschichte“ hingestellt wird, so ist damit von dem grossen Denker und Dichter in tiefsinnigster Weise die mechanische Natur auch der verwickeltsten organischen Processe treffend angedeutet. Wenn der „Wille“ des Menschen und der höheren

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_plastidule_1876
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_plastidule_1876/44
Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Perigenesis der Plastidule oder die Wellenerzeugung der Lebenstheilchen. Berlin, 1876, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_plastidule_1876/44>, abgerufen am 29.03.2024.