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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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VIII. Keimschlaf der Seele.
Grundgesetz vielfach auf die Entwickelung ihrer Seele anwenden
können. Denn sie entwickeln sich unmittelbar unter den wechseln-
den Bedingungen der Außenwelt und müssen diesen frühzeitig
ihre Empfindung und Bewegung anpassen. Die schwimmende
Kaulquappe besitzt nicht nur die Organisation, sondern auch die
Lebensweise des Fisches und erlangt erst durch ihre Verwandlung
diejenige des Frosches.

Beim Menschen wie bei allen anderen Amnioten ist das
nicht der Fall; ihr Embryo ist schon durch den Einschluß in die
schützenden Eihüllen dem direkten Einflusse der Außenwelt ganz
entzogen und jeder Wechselwirkung mit derselben entwöhnt.
Außerdem aber bietet die besondere Brutpflege der Amnion-
thiere ihrem Keime viel günstigere Bedingungen für cenogenetische
Abkürzung der palingenetischen Entwickelung. Vor Allem gehört
dahin die vortreffliche Ernährung des Keims; sie geschieht bei
den Reptilien, Vögeln und Monotremen (den eierlegenden Säuge-
thieren) durch den großen gelben Nahrungsdotter, welcher dem
Ei beigegeben ist, bei den übrigen Mammalien hingegen (Beutel-
thieren und Zottenthieren) durch das Blut der Mutter, welches
durch die Blutgefäße des Dottersackes und der Allantois dem
Keime zugeführt wird. Bei den höchstentwickelten Zotten-
thieren
(Placentalia) hat diese zweckmäßige Ernährungsform
durch Ausbildung des Mutterkuchens (Placenta) den höchsten
Grad der Vollkommenheit erreicht; daher ist der Embryo schon
vor der Geburt hier vollkommen ausgebildet. Seine Seele aber
befindet sich während dieser ganzen Zeit im Zustande des Keim-
schlafes
, einem Ruhezustande, welchen Preyer mit Recht dem
Winterschlafe der Thiere verglichen hat. Einen gleichen, lange
dauernden Schlaf finden wir auch im Puppenzustande jener
Insekten, welche eine vollkommene Verwandlung durchmachen
(Schmetterlinge, Immen, Fliegen, Käfer u. s. w.). Hier ist der
Puppenschlaf, während dessen die wichtigsten Umbildungen

VIII. Keimſchlaf der Seele.
Grundgeſetz vielfach auf die Entwickelung ihrer Seele anwenden
können. Denn ſie entwickeln ſich unmittelbar unter den wechſeln-
den Bedingungen der Außenwelt und müſſen dieſen frühzeitig
ihre Empfindung und Bewegung anpaſſen. Die ſchwimmende
Kaulquappe beſitzt nicht nur die Organiſation, ſondern auch die
Lebensweiſe des Fiſches und erlangt erſt durch ihre Verwandlung
diejenige des Froſches.

Beim Menſchen wie bei allen anderen Amnioten iſt das
nicht der Fall; ihr Embryo iſt ſchon durch den Einſchluß in die
ſchützenden Eihüllen dem direkten Einfluſſe der Außenwelt ganz
entzogen und jeder Wechſelwirkung mit derſelben entwöhnt.
Außerdem aber bietet die beſondere Brutpflege der Amnion-
thiere ihrem Keime viel günſtigere Bedingungen für cenogenetiſche
Abkürzung der palingenetiſchen Entwickelung. Vor Allem gehört
dahin die vortreffliche Ernährung des Keims; ſie geſchieht bei
den Reptilien, Vögeln und Monotremen (den eierlegenden Säuge-
thieren) durch den großen gelben Nahrungsdotter, welcher dem
Ei beigegeben iſt, bei den übrigen Mammalien hingegen (Beutel-
thieren und Zottenthieren) durch das Blut der Mutter, welches
durch die Blutgefäße des Dotterſackes und der Allantois dem
Keime zugeführt wird. Bei den höchſtentwickelten Zotten-
thieren
(Placentalia) hat dieſe zweckmäßige Ernährungsform
durch Ausbildung des Mutterkuchens (Placenta) den höchſten
Grad der Vollkommenheit erreicht; daher iſt der Embryo ſchon
vor der Geburt hier vollkommen ausgebildet. Seine Seele aber
befindet ſich während dieſer ganzen Zeit im Zuſtande des Keim-
ſchlafes
, einem Ruhezuſtande, welchen Preyer mit Recht dem
Winterſchlafe der Thiere verglichen hat. Einen gleichen, lange
dauernden Schlaf finden wir auch im Puppenzuſtande jener
Inſekten, welche eine vollkommene Verwandlung durchmachen
(Schmetterlinge, Immen, Fliegen, Käfer u. ſ. w.). Hier iſt der
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[169/0185] VIII. Keimſchlaf der Seele. Grundgeſetz vielfach auf die Entwickelung ihrer Seele anwenden können. Denn ſie entwickeln ſich unmittelbar unter den wechſeln- den Bedingungen der Außenwelt und müſſen dieſen frühzeitig ihre Empfindung und Bewegung anpaſſen. Die ſchwimmende Kaulquappe beſitzt nicht nur die Organiſation, ſondern auch die Lebensweiſe des Fiſches und erlangt erſt durch ihre Verwandlung diejenige des Froſches. Beim Menſchen wie bei allen anderen Amnioten iſt das nicht der Fall; ihr Embryo iſt ſchon durch den Einſchluß in die ſchützenden Eihüllen dem direkten Einfluſſe der Außenwelt ganz entzogen und jeder Wechſelwirkung mit derſelben entwöhnt. Außerdem aber bietet die beſondere Brutpflege der Amnion- thiere ihrem Keime viel günſtigere Bedingungen für cenogenetiſche Abkürzung der palingenetiſchen Entwickelung. Vor Allem gehört dahin die vortreffliche Ernährung des Keims; ſie geſchieht bei den Reptilien, Vögeln und Monotremen (den eierlegenden Säuge- thieren) durch den großen gelben Nahrungsdotter, welcher dem Ei beigegeben iſt, bei den übrigen Mammalien hingegen (Beutel- thieren und Zottenthieren) durch das Blut der Mutter, welches durch die Blutgefäße des Dotterſackes und der Allantois dem Keime zugeführt wird. Bei den höchſtentwickelten Zotten- thieren (Placentalia) hat dieſe zweckmäßige Ernährungsform durch Ausbildung des Mutterkuchens (Placenta) den höchſten Grad der Vollkommenheit erreicht; daher iſt der Embryo ſchon vor der Geburt hier vollkommen ausgebildet. Seine Seele aber befindet ſich während dieſer ganzen Zeit im Zuſtande des Keim- ſchlafes, einem Ruhezuſtande, welchen Preyer mit Recht dem Winterſchlafe der Thiere verglichen hat. Einen gleichen, lange dauernden Schlaf finden wir auch im Puppenzuſtande jener Inſekten, welche eine vollkommene Verwandlung durchmachen (Schmetterlinge, Immen, Fliegen, Käfer u. ſ. w.). Hier iſt der Puppenſchlaf, während deſſen die wichtigſten Umbildungen

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 169. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/185>, abgerufen am 23.04.2024.