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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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Zustand der modernen Rechtspflege. I.

Fortschritte der socialen Einrichtungen. Während wir so
heute mit gerechtem Stolze auf die gewaltigen Fortschritte des
19. Jahrhunderts in der Natur-Erkenntniß und deren praktischer
Verwerthung zurückblicken, so bietet sich uns leider ein ganz
anderes und wenig erfreuliches Bild, wenn wir nun andere,
nicht minder wichtige Gebiete dieses modernen Kultur-Lebens
in's Auge fassen. Zu unserem Bedauern müssen wir da den
Satz von Alfred Wallace unterschreiben: "Verglichen mit
unseren erstaunlichen Fortschritten in den physikalischen Wissen-
schaften und in ihrer praktischen Anwendung, bleibt unser System
der Regierung, der administrativen Justiz, der National-Erziehung
und unsere ganze sociale und moralische Organisation in einem
Zustande der Barbarei." Um uns von der Wahrheit
dieser schweren Vorwürfe zu überzeugen, brauchen wir nur einen
unbefangenen Blick mitten in unser öffentliches Leben hinein zu
werfen oder in den Spiegel zu blicken, den uns täglich unsere
Zeitung, als das Organ der öffentlichen Meinung, vorhält.

Unsere Rechtspflege. Beginnen wir unsere Rundschau
mit der Justiz, dem "Fundamentum regnorum". Niemand
wird behaupten können, daß deren heutiger Zustand mit unserer
fortgeschrittenen Erkenntniß des Menschen und der Welt in Ein-
klang sei. Keine Woche vergeht, in der wir nicht von richter-
lichen Urtheilen lesen, über welche der "gesunde Menschen-Ver-
stand" bedenklich das Haupt schüttelt; viele Entscheidungen
unserer höheren und niederen Gerichtshöfe erscheinen geradezu
unbegreiflich. Wir sehen bei Behandlung dieses "Welträthsels"
ganz davon ab, daß in vielen modernen Staaten -- trotz der
auf Papier gedruckten Verfassung -- noch thatsächlich der Abso-
lutismus herrscht, und daß viele "Männer des Rechts" nicht
nach ehrlicher Ueberzeugung urtheilen, sondern entsprechend dem
"höheren Wunsche von maßgebender Stelle". Wir nehmen viel-
mehr an, daß die meisten Richter und Staatsanwälte nach

Zuſtand der modernen Rechtspflege. I.

Fortſchritte der ſocialen Einrichtungen. Während wir ſo
heute mit gerechtem Stolze auf die gewaltigen Fortſchritte des
19. Jahrhunderts in der Natur-Erkenntniß und deren praktiſcher
Verwerthung zurückblicken, ſo bietet ſich uns leider ein ganz
anderes und wenig erfreuliches Bild, wenn wir nun andere,
nicht minder wichtige Gebiete dieſes modernen Kultur-Lebens
in's Auge faſſen. Zu unſerem Bedauern müſſen wir da den
Satz von Alfred Wallace unterſchreiben: „Verglichen mit
unſeren erſtaunlichen Fortſchritten in den phyſikaliſchen Wiſſen-
ſchaften und in ihrer praktiſchen Anwendung, bleibt unſer Syſtem
der Regierung, der adminiſtrativen Juſtiz, der National-Erziehung
und unſere ganze ſociale und moraliſche Organiſation in einem
Zuſtande der Barbarei.“ Um uns von der Wahrheit
dieſer ſchweren Vorwürfe zu überzeugen, brauchen wir nur einen
unbefangenen Blick mitten in unſer öffentliches Leben hinein zu
werfen oder in den Spiegel zu blicken, den uns täglich unſere
Zeitung, als das Organ der öffentlichen Meinung, vorhält.

Unſere Rechtspflege. Beginnen wir unſere Rundſchau
mit der Juſtiz, dem „Fundamentum regnorum“. Niemand
wird behaupten können, daß deren heutiger Zuſtand mit unſerer
fortgeſchrittenen Erkenntniß des Menſchen und der Welt in Ein-
klang ſei. Keine Woche vergeht, in der wir nicht von richter-
lichen Urtheilen leſen, über welche der „geſunde Menſchen-Ver-
ſtand“ bedenklich das Haupt ſchüttelt; viele Entſcheidungen
unſerer höheren und niederen Gerichtshöfe erſcheinen geradezu
unbegreiflich. Wir ſehen bei Behandlung dieſes „Welträthſels“
ganz davon ab, daß in vielen modernen Staaten — trotz der
auf Papier gedruckten Verfaſſung — noch thatſächlich der Abſo-
lutismus herrſcht, und daß viele „Männer des Rechts“ nicht
nach ehrlicher Ueberzeugung urtheilen, ſondern entſprechend dem
„höheren Wunſche von maßgebender Stelle“. Wir nehmen viel-
mehr an, daß die meiſten Richter und Staatsanwälte nach

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[8/0024] Zuſtand der modernen Rechtspflege. I. Fortſchritte der ſocialen Einrichtungen. Während wir ſo heute mit gerechtem Stolze auf die gewaltigen Fortſchritte des 19. Jahrhunderts in der Natur-Erkenntniß und deren praktiſcher Verwerthung zurückblicken, ſo bietet ſich uns leider ein ganz anderes und wenig erfreuliches Bild, wenn wir nun andere, nicht minder wichtige Gebiete dieſes modernen Kultur-Lebens in's Auge faſſen. Zu unſerem Bedauern müſſen wir da den Satz von Alfred Wallace unterſchreiben: „Verglichen mit unſeren erſtaunlichen Fortſchritten in den phyſikaliſchen Wiſſen- ſchaften und in ihrer praktiſchen Anwendung, bleibt unſer Syſtem der Regierung, der adminiſtrativen Juſtiz, der National-Erziehung und unſere ganze ſociale und moraliſche Organiſation in einem Zuſtande der Barbarei.“ Um uns von der Wahrheit dieſer ſchweren Vorwürfe zu überzeugen, brauchen wir nur einen unbefangenen Blick mitten in unſer öffentliches Leben hinein zu werfen oder in den Spiegel zu blicken, den uns täglich unſere Zeitung, als das Organ der öffentlichen Meinung, vorhält. Unſere Rechtspflege. Beginnen wir unſere Rundſchau mit der Juſtiz, dem „Fundamentum regnorum“. Niemand wird behaupten können, daß deren heutiger Zuſtand mit unſerer fortgeſchrittenen Erkenntniß des Menſchen und der Welt in Ein- klang ſei. Keine Woche vergeht, in der wir nicht von richter- lichen Urtheilen leſen, über welche der „geſunde Menſchen-Ver- ſtand“ bedenklich das Haupt ſchüttelt; viele Entſcheidungen unſerer höheren und niederen Gerichtshöfe erſcheinen geradezu unbegreiflich. Wir ſehen bei Behandlung dieſes „Welträthſels“ ganz davon ab, daß in vielen modernen Staaten — trotz der auf Papier gedruckten Verfaſſung — noch thatſächlich der Abſo- lutismus herrſcht, und daß viele „Männer des Rechts“ nicht nach ehrlicher Ueberzeugung urtheilen, ſondern entſprechend dem „höheren Wunſche von maßgebender Stelle“. Wir nehmen viel- mehr an, daß die meiſten Richter und Staatsanwälte nach

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/24>, abgerufen am 19.04.2024.