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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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Schöpfung des Weltalls. XIII.
wo denkende Menschen wohnten, der Glaube an die Schöpfung
derselben. In Tausenden von interessanten, mehr oder weniger
fabelhaften Sagen und Dichtungen, Kosmogonien und
Kreations-Mythen, hat dieser Schöpfungs-Glaube seinen
mannigfaltigen Ausdruck gefunden. Frei davon blieben nur
wenige große Philosophen und besonders jene bewunderungs-
würdigen freien Denker des klassischen Alterthums, die zuerst
den Gedanken der natürlichen Entwickelung erfaßten. Im
Gegensatz zu diesem letzteren trugen alle jene Schöpfungs-Mythen
den Charakter des Uebernatürlichen, Wunderbaren oder
Transscendenten. Unfähig, das Wesen der Welt selbst zu er-
kennen und ihre Entstehung durch natürliche Ursachen zu erklären,
mußte die unentwickelte Vernunft selbstverständlich zum Wunder
greifen. In den meisten Schöpfungs-Sagen verknüpfte sich mit
dem Wunder der Anthropismus. Wie der Mensch mit Ab-
sicht und durch Kunst seine Werke schaffte, so sollte der bildende
"Gott" planmäßig die Welt erschaffen haben; die Vorstellung
dieses Schöpfers war meistens ganz anthropomorph, ein offen-
kundiger "anthropistischer Kreatismus". Der "allmächtige
Schöpfer Himmels und der Erden", wie er im ersten Buch Moses
und in unserem heute noch gültigen Katechismus schafft, ist ebenso
ganz menschlich gedacht wie der moderne Schöpfer von Agassiz
und Reinke oder der intelligente "Maschinen-Ingenieur" von
anderen Biologen der Gegenwart.

Schöpfung des Weltalls und der Einzeldinge (Kreation
der Substanz und der Accidenzen
). Bei tieferem Ein-
gehen in den Wunderbegriff der Kreation können wir als
zwei wesentlich verschiedene Akte die totale Schöpfung des Welt-
alls und die partielle Schöpfung der einzelnen Dinge unterscheiden,
entsprechend dem Begriffe Spinoza's von der Substanz
(dem Universum) und den Accidenzen (oder Modi, den ein-
zelnen "Erscheinungsformen der Substanz"). Diese Unterscheidung

Schöpfung des Weltalls. XIII.
wo denkende Menſchen wohnten, der Glaube an die Schöpfung
derſelben. In Tauſenden von intereſſanten, mehr oder weniger
fabelhaften Sagen und Dichtungen, Kosmogonien und
Kreations-Mythen, hat dieſer Schöpfungs-Glaube ſeinen
mannigfaltigen Ausdruck gefunden. Frei davon blieben nur
wenige große Philoſophen und beſonders jene bewunderungs-
würdigen freien Denker des klaſſiſchen Alterthums, die zuerſt
den Gedanken der natürlichen Entwickelung erfaßten. Im
Gegenſatz zu dieſem letzteren trugen alle jene Schöpfungs-Mythen
den Charakter des Uebernatürlichen, Wunderbaren oder
Transſcendenten. Unfähig, das Weſen der Welt ſelbſt zu er-
kennen und ihre Entſtehung durch natürliche Urſachen zu erklären,
mußte die unentwickelte Vernunft ſelbſtverſtändlich zum Wunder
greifen. In den meiſten Schöpfungs-Sagen verknüpfte ſich mit
dem Wunder der Anthropismus. Wie der Menſch mit Ab-
ſicht und durch Kunſt ſeine Werke ſchaffte, ſo ſollte der bildende
„Gott“ planmäßig die Welt erſchaffen haben; die Vorſtellung
dieſes Schöpfers war meiſtens ganz anthropomorph, ein offen-
kundiger „anthropiſtiſcher Kreatismus“. Der „allmächtige
Schöpfer Himmels und der Erden“, wie er im erſten Buch Moſes
und in unſerem heute noch gültigen Katechismus ſchafft, iſt ebenſo
ganz menſchlich gedacht wie der moderne Schöpfer von Agaſſiz
und Reinke oder der intelligente „Maſchinen-Ingenieur“ von
anderen Biologen der Gegenwart.

Schöpfung des Weltalls und der Einzeldinge (Kreation
der Subſtanz und der Accidenzen
). Bei tieferem Ein-
gehen in den Wunderbegriff der Kreation können wir als
zwei weſentlich verſchiedene Akte die totale Schöpfung des Welt-
alls und die partielle Schöpfung der einzelnen Dinge unterſcheiden,
entſprechend dem Begriffe Spinoza's von der Subſtanz
(dem Univerſum) und den Accidenzen (oder Modi, den ein-
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[272/0288] Schöpfung des Weltalls. XIII. wo denkende Menſchen wohnten, der Glaube an die Schöpfung derſelben. In Tauſenden von intereſſanten, mehr oder weniger fabelhaften Sagen und Dichtungen, Kosmogonien und Kreations-Mythen, hat dieſer Schöpfungs-Glaube ſeinen mannigfaltigen Ausdruck gefunden. Frei davon blieben nur wenige große Philoſophen und beſonders jene bewunderungs- würdigen freien Denker des klaſſiſchen Alterthums, die zuerſt den Gedanken der natürlichen Entwickelung erfaßten. Im Gegenſatz zu dieſem letzteren trugen alle jene Schöpfungs-Mythen den Charakter des Uebernatürlichen, Wunderbaren oder Transſcendenten. Unfähig, das Weſen der Welt ſelbſt zu er- kennen und ihre Entſtehung durch natürliche Urſachen zu erklären, mußte die unentwickelte Vernunft ſelbſtverſtändlich zum Wunder greifen. In den meiſten Schöpfungs-Sagen verknüpfte ſich mit dem Wunder der Anthropismus. Wie der Menſch mit Ab- ſicht und durch Kunſt ſeine Werke ſchaffte, ſo ſollte der bildende „Gott“ planmäßig die Welt erſchaffen haben; die Vorſtellung dieſes Schöpfers war meiſtens ganz anthropomorph, ein offen- kundiger „anthropiſtiſcher Kreatismus“. Der „allmächtige Schöpfer Himmels und der Erden“, wie er im erſten Buch Moſes und in unſerem heute noch gültigen Katechismus ſchafft, iſt ebenſo ganz menſchlich gedacht wie der moderne Schöpfer von Agaſſiz und Reinke oder der intelligente „Maſchinen-Ingenieur“ von anderen Biologen der Gegenwart. Schöpfung des Weltalls und der Einzeldinge (Kreation der Subſtanz und der Accidenzen). Bei tieferem Ein- gehen in den Wunderbegriff der Kreation können wir als zwei weſentlich verſchiedene Akte die totale Schöpfung des Welt- alls und die partielle Schöpfung der einzelnen Dinge unterſcheiden, entſprechend dem Begriffe Spinoza's von der Subſtanz (dem Univerſum) und den Accidenzen (oder Modi, den ein- zelnen „Erſcheinungsformen der Subſtanz“). Dieſe Unterſcheidung

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 272. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/288>, abgerufen am 23.04.2024.