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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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Wissenschaft und Christenthum. XVII.
alte und der neue Glaube" (1872, neunte Auflage 1877)
ist der allgemein gültige Ausdruck der ehrlichen Ueberzeugung
aller derjenigen Gebildeten der Gegenwart, welche den unver-
meidlichen Konflikt zwischen den anerzogenen, herrschenden
Glaubenslehren des Christenthums und den einleuchtenden,
vernunftgemäßen Offenbarungen der modernen Naturwissenschaft
einsehen; aller derjenigen, welche den Muth finden, das Recht
der Vernunft gegenüber den Ansprüchen des Aberglaubens
zu wahren, und welche das philosophische Bedürfniß nach einer
einheitlichen Naturanschauung empfinden. Strauß hat als
ehrlicher und muthiger Freidenker weit besser, als ich es vermag,
die wichtigsten Gegensätze zwischen "altem und neuem Glauben"
klargelegt. Die volle Unversöhnlichkeit zwischen beiden Gegen-
sätzen, die Unvermeidlichkeit des Entscheidungskampfes zwischen
beiden -- "auf Tod und Leben" -- hat von philosophischer Seite
namentlich Eduard Hartmann nachgewiesen, in seiner inter-
essanten Schrift über die Selbstzersetzung des Christenthums (1874).

Wenn man die Werke von Strauß und Feuerbach,
sowie die "Geschichte der Konflikte zwischen Religion und Wissen-
schaft" von John William Draper (1875) gelesen hat, so
könnte es überflüssig erscheinen, diesem Gegenstande hier ein be-
sonderes Kapitel zu widmen. Trotzdem wird es nützlich und
nothwendig sein, hier einen kritischen Blick auf den historischen
Verlauf dieses großen Kampfes zu werfen, und zwar deshalb,
weil die Angriffe der streitenden Kirche auf die Wissenschaft
im Allgemeinen und auf die Entwickelungslehre im Besonderen
in neuester Zeit besonders scharf und gefahrdrohend geworden
sind. Auch ist leider die geistige Erschlaffung, welche sich neuer-
dings geltend macht, sowie die steigende Fluth der Reaktion auf
politischem, socialem und kirchlichem Gebiete nur zu sehr ge-
eignet, jene Gefahren zu verschärfen. Wollte Jemand daran
zweifeln, so braucht er nur die Verhandlungen der christlichen

Wiſſenſchaft und Chriſtenthum. XVII.
alte und der neue Glaube“ (1872, neunte Auflage 1877)
iſt der allgemein gültige Ausdruck der ehrlichen Ueberzeugung
aller derjenigen Gebildeten der Gegenwart, welche den unver-
meidlichen Konflikt zwiſchen den anerzogenen, herrſchenden
Glaubenslehren des Chriſtenthums und den einleuchtenden,
vernunftgemäßen Offenbarungen der modernen Naturwiſſenſchaft
einſehen; aller derjenigen, welche den Muth finden, das Recht
der Vernunft gegenüber den Anſprüchen des Aberglaubens
zu wahren, und welche das philoſophiſche Bedürfniß nach einer
einheitlichen Naturanſchauung empfinden. Strauß hat als
ehrlicher und muthiger Freidenker weit beſſer, als ich es vermag,
die wichtigſten Gegenſätze zwiſchen „altem und neuem Glauben“
klargelegt. Die volle Unverſöhnlichkeit zwiſchen beiden Gegen-
ſätzen, die Unvermeidlichkeit des Entſcheidungskampfes zwiſchen
beiden — „auf Tod und Leben“ — hat von philoſophiſcher Seite
namentlich Eduard Hartmann nachgewieſen, in ſeiner inter-
eſſanten Schrift über die Selbſtzerſetzung des Chriſtenthums (1874).

Wenn man die Werke von Strauß und Feuerbach,
ſowie die „Geſchichte der Konflikte zwiſchen Religion und Wiſſen-
ſchaft“ von John William Draper (1875) geleſen hat, ſo
könnte es überflüſſig erſcheinen, dieſem Gegenſtande hier ein be-
ſonderes Kapitel zu widmen. Trotzdem wird es nützlich und
nothwendig ſein, hier einen kritiſchen Blick auf den hiſtoriſchen
Verlauf dieſes großen Kampfes zu werfen, und zwar deshalb,
weil die Angriffe der ſtreitenden Kirche auf die Wiſſenſchaft
im Allgemeinen und auf die Entwickelungslehre im Beſonderen
in neueſter Zeit beſonders ſcharf und gefahrdrohend geworden
ſind. Auch iſt leider die geiſtige Erſchlaffung, welche ſich neuer-
dings geltend macht, ſowie die ſteigende Fluth der Reaktion auf
politiſchem, ſocialem und kirchlichem Gebiete nur zu ſehr ge-
eignet, jene Gefahren zu verſchärfen. Wollte Jemand daran
zweifeln, ſo braucht er nur die Verhandlungen der chriſtlichen

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[358/0374] Wiſſenſchaft und Chriſtenthum. XVII. alte und der neue Glaube“ (1872, neunte Auflage 1877) iſt der allgemein gültige Ausdruck der ehrlichen Ueberzeugung aller derjenigen Gebildeten der Gegenwart, welche den unver- meidlichen Konflikt zwiſchen den anerzogenen, herrſchenden Glaubenslehren des Chriſtenthums und den einleuchtenden, vernunftgemäßen Offenbarungen der modernen Naturwiſſenſchaft einſehen; aller derjenigen, welche den Muth finden, das Recht der Vernunft gegenüber den Anſprüchen des Aberglaubens zu wahren, und welche das philoſophiſche Bedürfniß nach einer einheitlichen Naturanſchauung empfinden. Strauß hat als ehrlicher und muthiger Freidenker weit beſſer, als ich es vermag, die wichtigſten Gegenſätze zwiſchen „altem und neuem Glauben“ klargelegt. Die volle Unverſöhnlichkeit zwiſchen beiden Gegen- ſätzen, die Unvermeidlichkeit des Entſcheidungskampfes zwiſchen beiden — „auf Tod und Leben“ — hat von philoſophiſcher Seite namentlich Eduard Hartmann nachgewieſen, in ſeiner inter- eſſanten Schrift über die Selbſtzerſetzung des Chriſtenthums (1874). Wenn man die Werke von Strauß und Feuerbach, ſowie die „Geſchichte der Konflikte zwiſchen Religion und Wiſſen- ſchaft“ von John William Draper (1875) geleſen hat, ſo könnte es überflüſſig erſcheinen, dieſem Gegenſtande hier ein be- ſonderes Kapitel zu widmen. Trotzdem wird es nützlich und nothwendig ſein, hier einen kritiſchen Blick auf den hiſtoriſchen Verlauf dieſes großen Kampfes zu werfen, und zwar deshalb, weil die Angriffe der ſtreitenden Kirche auf die Wiſſenſchaft im Allgemeinen und auf die Entwickelungslehre im Beſonderen in neueſter Zeit beſonders ſcharf und gefahrdrohend geworden ſind. Auch iſt leider die geiſtige Erſchlaffung, welche ſich neuer- dings geltend macht, ſowie die ſteigende Fluth der Reaktion auf politiſchem, ſocialem und kirchlichem Gebiete nur zu ſehr ge- eignet, jene Gefahren zu verſchärfen. Wollte Jemand daran zweifeln, ſo braucht er nur die Verhandlungen der chriſtlichen

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 358. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/374>, abgerufen am 29.03.2024.