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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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Viele und sehr angesehene Naturforscher und Philosophen
der Gegenwart, welche unsere monistischen Ueberzeugungen theilen,
halten die Religion überhaupt für eine abgethane Sache. Sie
meinen, daß die klare Einsicht in die Weltentwickelung, die wir
den gewaltigen Erkenntnißfortschritten des 19. Jahrhunderts ver-
danken, nicht bloß das Kausalitäts-Bedürfniß unserer Vernunft
vollkommen befriedige, sondern auch die höchsten Gefühls-
Bedürfnisse unseres Gemüthes. Diese Ansicht ist in gewissem
Sinne richtig, insofern bei einer vollkommen klaren und folge-
richtigen Auffassung des Monismus thatsächlich die beiden Begriffe
von Religion und Wissenschaft zu Einem mit einander ver-
schmelzen. Indessen nur wenige entschlossene Denker ringen sich
zu dieser höchsten und reinsten Auffassung von Spinoza und
Goethe empor; vielmehr verharren die meisten Gebildeten
unserer Zeit (ganz abgesehen von den ungebildeten Volksmassen)
bei der Ueberzeugung, daß die Religion ein selbständiges, von
der Wissenschaft unabhängiges Gebiet unseres Geisteslebens dar-
stelle, nicht minder werthvoll und unentbehrlich als die letztere.

Wenn wir diesen Standpunkt einnehmen, können wir eine
Versöhnung zwischen jenen beiden großen, anscheinend getrennten
Gebieten in der Auffassung finden, welche ich 1892 in meinem

Viele und ſehr angeſehene Naturforſcher und Philoſophen
der Gegenwart, welche unſere moniſtiſchen Ueberzeugungen theilen,
halten die Religion überhaupt für eine abgethane Sache. Sie
meinen, daß die klare Einſicht in die Weltentwickelung, die wir
den gewaltigen Erkenntnißfortſchritten des 19. Jahrhunderts ver-
danken, nicht bloß das Kauſalitäts-Bedürfniß unſerer Vernunft
vollkommen befriedige, ſondern auch die höchſten Gefühls-
Bedürfniſſe unſeres Gemüthes. Dieſe Anſicht iſt in gewiſſem
Sinne richtig, inſofern bei einer vollkommen klaren und folge-
richtigen Auffaſſung des Monismus thatſächlich die beiden Begriffe
von Religion und Wiſſenſchaft zu Einem mit einander ver-
ſchmelzen. Indeſſen nur wenige entſchloſſene Denker ringen ſich
zu dieſer höchſten und reinſten Auffaſſung von Spinoza und
Goethe empor; vielmehr verharren die meiſten Gebildeten
unſerer Zeit (ganz abgeſehen von den ungebildeten Volksmaſſen)
bei der Ueberzeugung, daß die Religion ein ſelbſtändiges, von
der Wiſſenſchaft unabhängiges Gebiet unſeres Geiſteslebens dar-
ſtelle, nicht minder werthvoll und unentbehrlich als die letztere.

Wenn wir dieſen Standpunkt einnehmen, können wir eine
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[[383]/0399] Viele und ſehr angeſehene Naturforſcher und Philoſophen der Gegenwart, welche unſere moniſtiſchen Ueberzeugungen theilen, halten die Religion überhaupt für eine abgethane Sache. Sie meinen, daß die klare Einſicht in die Weltentwickelung, die wir den gewaltigen Erkenntnißfortſchritten des 19. Jahrhunderts ver- danken, nicht bloß das Kauſalitäts-Bedürfniß unſerer Vernunft vollkommen befriedige, ſondern auch die höchſten Gefühls- Bedürfniſſe unſeres Gemüthes. Dieſe Anſicht iſt in gewiſſem Sinne richtig, inſofern bei einer vollkommen klaren und folge- richtigen Auffaſſung des Monismus thatſächlich die beiden Begriffe von Religion und Wiſſenſchaft zu Einem mit einander ver- ſchmelzen. Indeſſen nur wenige entſchloſſene Denker ringen ſich zu dieſer höchſten und reinſten Auffaſſung von Spinoza und Goethe empor; vielmehr verharren die meiſten Gebildeten unſerer Zeit (ganz abgeſehen von den ungebildeten Volksmaſſen) bei der Ueberzeugung, daß die Religion ein ſelbſtändiges, von der Wiſſenſchaft unabhängiges Gebiet unſeres Geiſteslebens dar- ſtelle, nicht minder werthvoll und unentbehrlich als die letztere. Wenn wir dieſen Standpunkt einnehmen, können wir eine Verſöhnung zwiſchen jenen beiden großen, anſcheinend getrennten Gebieten in der Auffaſſung finden, welche ich 1892 in meinem

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. [383]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/399>, abgerufen am 19.04.2024.