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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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Der kategorische Imperativ. XIX.
mehr auf den religiösen Glauben stützen. Die Erkenntniß der
sittlichen Welt soll danach durch die gläubige praktische
Vernunft
geschehen, hingegen diejenige der Natur oder der
physischen Welt durch die reine theoretische Vernunft.
Dieser unzweifelhafte und bewußte Dualismus in Kant's
Philosophie war ihr größter und schwerster Fehler; er hat
unendliches Unheil angerichtet und wirkt noch heute fort11. Zuerst
hatte der kritische Kant den großartigen und bewunderungs-
würdigen Palast der reinen Vernunft ausgebaut und einleuchtend
gezeigt, daß die drei großen Central-Dogmen der Meta-
physik:
der persönliche Gott, der freie Wille und die unsterb-
liche Seele, darin nirgends untergebracht werden können, ja daß
vernünftige Beweise für deren Realität gar nicht zu finden sind.
Später aber baute der dogmatische Kant an diesen realen
Krystall-Palast der reinen Vernunft das schimmernde ideale Luft-
schloß der praktischen Vernunft an, in welchem drei imposante
Kirchenschiffe zur Wohnstätte jener drei gewaltigen mystischen
Gottheiten hergerichtet wurden. Nachdem sie durch die Vorder-
thür mittels des vernünftigen Wissens hinausgeschafft waren,
kehrten sie nun durch die Hinterthür mittels des unvernünftigen
Glaubens wieder zurück.

Die Kuppel seines großen Glaubens-Domes krönte Kant
mit einem seltsamen Idol, dem berühmten kategorischen
Imperativ;
danach ist die Forderung des allgemeinen Sitten-
gesetzes ganz unbedingt, unabhängig von jeder Rücksicht auf
Wirklichkeit und Möglichkeit; sie lautet: "Handle jederzeit so,
daß die Maxime (oder der subjektive Grundsatz deines Willens)
zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne."
Jeder normale Mensch sollte demnach dasselbe Pflichtgefühl haben
wie jeder Andere. Die moderne Anthropologie hat diesen schönen
Traum grausam zerstört; sie hat gezeigt, daß unter den Natur-
Völkern die Pflichten noch weit verschiedener sind als unter den

Der kategoriſche Imperativ. XIX.
mehr auf den religiöſen Glauben ſtützen. Die Erkenntniß der
ſittlichen Welt ſoll danach durch die gläubige praktiſche
Vernunft
geſchehen, hingegen diejenige der Natur oder der
phyſiſchen Welt durch die reine theoretiſche Vernunft.
Dieſer unzweifelhafte und bewußte Dualismus in Kant's
Philoſophie war ihr größter und ſchwerſter Fehler; er hat
unendliches Unheil angerichtet und wirkt noch heute fort11. Zuerſt
hatte der kritiſche Kant den großartigen und bewunderungs-
würdigen Palaſt der reinen Vernunft ausgebaut und einleuchtend
gezeigt, daß die drei großen Central-Dogmen der Meta-
phyſik:
der perſönliche Gott, der freie Wille und die unſterb-
liche Seele, darin nirgends untergebracht werden können, ja daß
vernünftige Beweiſe für deren Realität gar nicht zu finden ſind.
Später aber baute der dogmatiſche Kant an dieſen realen
Kryſtall-Palaſt der reinen Vernunft das ſchimmernde ideale Luft-
ſchloß der praktiſchen Vernunft an, in welchem drei impoſante
Kirchenſchiffe zur Wohnſtätte jener drei gewaltigen myſtiſchen
Gottheiten hergerichtet wurden. Nachdem ſie durch die Vorder-
thür mittels des vernünftigen Wiſſens hinausgeſchafft waren,
kehrten ſie nun durch die Hinterthür mittels des unvernünftigen
Glaubens wieder zurück.

Die Kuppel ſeines großen Glaubens-Domes krönte Kant
mit einem ſeltſamen Idol, dem berühmten kategoriſchen
Imperativ;
danach iſt die Forderung des allgemeinen Sitten-
geſetzes ganz unbedingt, unabhängig von jeder Rückſicht auf
Wirklichkeit und Möglichkeit; ſie lautet: „Handle jederzeit ſo,
daß die Maxime (oder der ſubjektive Grundſatz deines Willens)
zugleich als Princip einer allgemeinen Geſetzgebung gelten könne.“
Jeder normale Menſch ſollte demnach dasſelbe Pflichtgefühl haben
wie jeder Andere. Die moderne Anthropologie hat dieſen ſchönen
Traum grauſam zerſtört; ſie hat gezeigt, daß unter den Natur-
Völkern die Pflichten noch weit verſchiedener ſind als unter den

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[402/0418] Der kategoriſche Imperativ. XIX. mehr auf den religiöſen Glauben ſtützen. Die Erkenntniß der ſittlichen Welt ſoll danach durch die gläubige praktiſche Vernunft geſchehen, hingegen diejenige der Natur oder der phyſiſchen Welt durch die reine theoretiſche Vernunft. Dieſer unzweifelhafte und bewußte Dualismus in Kant's Philoſophie war ihr größter und ſchwerſter Fehler; er hat unendliches Unheil angerichtet und wirkt noch heute fort ¹¹ . Zuerſt hatte der kritiſche Kant den großartigen und bewunderungs- würdigen Palaſt der reinen Vernunft ausgebaut und einleuchtend gezeigt, daß die drei großen Central-Dogmen der Meta- phyſik: der perſönliche Gott, der freie Wille und die unſterb- liche Seele, darin nirgends untergebracht werden können, ja daß vernünftige Beweiſe für deren Realität gar nicht zu finden ſind. Später aber baute der dogmatiſche Kant an dieſen realen Kryſtall-Palaſt der reinen Vernunft das ſchimmernde ideale Luft- ſchloß der praktiſchen Vernunft an, in welchem drei impoſante Kirchenſchiffe zur Wohnſtätte jener drei gewaltigen myſtiſchen Gottheiten hergerichtet wurden. Nachdem ſie durch die Vorder- thür mittels des vernünftigen Wiſſens hinausgeſchafft waren, kehrten ſie nun durch die Hinterthür mittels des unvernünftigen Glaubens wieder zurück. Die Kuppel ſeines großen Glaubens-Domes krönte Kant mit einem ſeltſamen Idol, dem berühmten kategoriſchen Imperativ; danach iſt die Forderung des allgemeinen Sitten- geſetzes ganz unbedingt, unabhängig von jeder Rückſicht auf Wirklichkeit und Möglichkeit; ſie lautet: „Handle jederzeit ſo, daß die Maxime (oder der ſubjektive Grundſatz deines Willens) zugleich als Princip einer allgemeinen Geſetzgebung gelten könne.“ Jeder normale Menſch ſollte demnach dasſelbe Pflichtgefühl haben wie jeder Andere. Die moderne Anthropologie hat dieſen ſchönen Traum grauſam zerſtört; ſie hat gezeigt, daß unter den Natur- Völkern die Pflichten noch weit verſchiedener ſind als unter den

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 402. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/418>, abgerufen am 18.04.2024.