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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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Menschliche Anatomie im Alterthum. II.
Hippokrates (von Kos). Aus ihren und anderen Schriften
schöpfte auch (im vierten Jahrh. v. Chr.) der große Aristo-
teles,
der hochberühmte "Vater der Naturgeschichte", gleich um-
fassend als Naturforscher wie als Philosoph. Nach ihm er-
scheint nur noch ein bedeutender Anatom im Alterthum, der
griechische Arzt Claudius Galenus (von Pergamus); er
entfaltete im zweiten Jahrhundert nach Chr. in Rom unter
Kaiser Marcus Aurelius eine reiche Praxis. Alle diese älteren
Anatomen erwarben ihre Kenntnisse zum größten Teile nicht
durch die Untersuchung des menschlichen Körpers selbst -- die
damals noch streng verboten war! --, sondern durch diejenige
der menschenähnlichsten Säugethiere, besonders der Affen; sie
waren also alle eigentlich schon "vergleichende Anatomen".

Das Emporblühen des Christenthums und der damit
verknüpften mystischen Weltanschauung bereitete der Anatomie,
wie allen anderen Naturwissenschaften, den Niedergang. Die
römischen Päpste, die größten Gaukler der Weltgeschichte,
waren vor Allem bestrebt, die Menschheit in Unwissenheit
zu erhalten, und hielten die Kenntniß des menschlichen Orga-
nismus mit Recht für ein gefährliches Mittel der Aufklärung
über unser wahres Wesen. Während des langen Zeitraums von
dreizehn Jahrhunderten blieben die Schriften des Galenus
fast die einzige Quelle für die menschliche Anatomie, ebenso wie
diejenigen des Aristoteles für die gesammte Naturgeschichte.
Erst als im sechzehnten Jahrhundert n. Chr. durch die Refor-
mation
die geistige Weltherrschaft des Papismus gebrochen
und durch das neue Weltsystem des Kopernikus die eng
damit verknüpfte geocentrische Weltanschauung zerstört wurde,
begann auch für die Erkenntniß des menschlichen Körpers eine
neue Periode des Aufschwungs. Die großen Anatomen Vesa-
lius
(aus Brüssel), Eustachius und Fallopius (aus
Modena) förderten durch eigene gründliche Untersuchungen die

Menſchliche Anatomie im Alterthum. II.
Hippokrates (von Kos). Aus ihren und anderen Schriften
ſchöpfte auch (im vierten Jahrh. v. Chr.) der große Ariſto-
teles,
der hochberühmte „Vater der Naturgeſchichte“, gleich um-
faſſend als Naturforſcher wie als Philoſoph. Nach ihm er-
ſcheint nur noch ein bedeutender Anatom im Alterthum, der
griechiſche Arzt Claudius Galenus (von Pergamus); er
entfaltete im zweiten Jahrhundert nach Chr. in Rom unter
Kaiſer Marcus Aurelius eine reiche Praxis. Alle dieſe älteren
Anatomen erwarben ihre Kenntniſſe zum größten Teile nicht
durch die Unterſuchung des menſchlichen Körpers ſelbſt — die
damals noch ſtreng verboten war! —, ſondern durch diejenige
der menſchenähnlichſten Säugethiere, beſonders der Affen; ſie
waren alſo alle eigentlich ſchon „vergleichende Anatomen“.

Das Emporblühen des Chriſtenthums und der damit
verknüpften myſtiſchen Weltanſchauung bereitete der Anatomie,
wie allen anderen Naturwiſſenſchaften, den Niedergang. Die
römiſchen Päpſte, die größten Gaukler der Weltgeſchichte,
waren vor Allem beſtrebt, die Menſchheit in Unwiſſenheit
zu erhalten, und hielten die Kenntniß des menſchlichen Orga-
nismus mit Recht für ein gefährliches Mittel der Aufklärung
über unſer wahres Weſen. Während des langen Zeitraums von
dreizehn Jahrhunderten blieben die Schriften des Galenus
faſt die einzige Quelle für die menſchliche Anatomie, ebenſo wie
diejenigen des Ariſtoteles für die geſammte Naturgeſchichte.
Erſt als im ſechzehnten Jahrhundert n. Chr. durch die Refor-
mation
die geiſtige Weltherrſchaft des Papismus gebrochen
und durch das neue Weltſyſtem des Kopernikus die eng
damit verknüpfte geocentriſche Weltanſchauung zerſtört wurde,
begann auch für die Erkenntniß des menſchlichen Körpers eine
neue Periode des Aufſchwungs. Die großen Anatomen Veſa-
lius
(aus Brüſſel), Euſtachius und Fallopius (aus
Modena) förderten durch eigene gründliche Unterſuchungen die

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[28/0044] Menſchliche Anatomie im Alterthum. II. Hippokrates (von Kos). Aus ihren und anderen Schriften ſchöpfte auch (im vierten Jahrh. v. Chr.) der große Ariſto- teles, der hochberühmte „Vater der Naturgeſchichte“, gleich um- faſſend als Naturforſcher wie als Philoſoph. Nach ihm er- ſcheint nur noch ein bedeutender Anatom im Alterthum, der griechiſche Arzt Claudius Galenus (von Pergamus); er entfaltete im zweiten Jahrhundert nach Chr. in Rom unter Kaiſer Marcus Aurelius eine reiche Praxis. Alle dieſe älteren Anatomen erwarben ihre Kenntniſſe zum größten Teile nicht durch die Unterſuchung des menſchlichen Körpers ſelbſt — die damals noch ſtreng verboten war! —, ſondern durch diejenige der menſchenähnlichſten Säugethiere, beſonders der Affen; ſie waren alſo alle eigentlich ſchon „vergleichende Anatomen“. Das Emporblühen des Chriſtenthums und der damit verknüpften myſtiſchen Weltanſchauung bereitete der Anatomie, wie allen anderen Naturwiſſenſchaften, den Niedergang. Die römiſchen Päpſte, die größten Gaukler der Weltgeſchichte, waren vor Allem beſtrebt, die Menſchheit in Unwiſſenheit zu erhalten, und hielten die Kenntniß des menſchlichen Orga- nismus mit Recht für ein gefährliches Mittel der Aufklärung über unſer wahres Weſen. Während des langen Zeitraums von dreizehn Jahrhunderten blieben die Schriften des Galenus faſt die einzige Quelle für die menſchliche Anatomie, ebenſo wie diejenigen des Ariſtoteles für die geſammte Naturgeſchichte. Erſt als im ſechzehnten Jahrhundert n. Chr. durch die Refor- mation die geiſtige Weltherrſchaft des Papismus gebrochen und durch das neue Weltſyſtem des Kopernikus die eng damit verknüpfte geocentriſche Weltanſchauung zerſtört wurde, begann auch für die Erkenntniß des menſchlichen Körpers eine neue Periode des Aufſchwungs. Die großen Anatomen Veſa- lius (aus Brüſſel), Euſtachius und Fallopius (aus Modena) förderten durch eigene gründliche Unterſuchungen die

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 28. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/44>, abgerufen am 25.04.2024.