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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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Anmerkungen und Erläuterungen.
hundert." -- Ich meinerseits bejahe jene Frage unbedingt, weil ich die feste
Begründung des Substanz-Gesetzes und der mit ihm untrennbar verknüpften
Entwickelungslehre als den größten Fortschritt zur endgültigen "Lösung
der Welträthsel
" betrachte. Ich verkenne keineswegs das schwere Ge-
wicht der schmerzlichen Verluste, welche die moderne Menschheit durch den
Untergang der herrschenden Glaubenslehren und der damit verknüpften
Zukunfts-Hoffnungen erleidet. Ich finde aber reichen Ersatz dafür in dem
unerschöpflichen Schatze der neuen einheitlichen Weltanschauung,
welchen uns die moderne Natur-Erkenntniß erschlossen hat. Ich bin fest
überzeugt, daß das zwanzigste Jahrhundert uns erst zum vollen Genusse
dieser Geistesschätze führen wird und damit zu der von Goethe so herrlich
erfaßten Religion des Wahren, Guten und Schönen.
"Der Erdenkreis ist mir genug bekannt;
Nach drüben ist die Aussicht uns verrannt.
Thor, wer dorthin die Augen blinzend richtet,
Sich über Wolken seines Gleichen dichtet!
Er stehe fest und sehe hier sich um;
Dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm.
Was braucht er in die Ewigkeit zu schweifen?
Was er erkennt, läßt sich ergreifen!
Er wandle so den Erdentag entlang;
Wenn Geister spuken, geh' er seinen Gang;
Im Weiterschreiten find't er Qual und Glück,
Ob unbefriedigt jeden Augenblick.
Ja, diesem Sinne bin ich ganz ergeben,
Das ist der Weisheit letzter Schluß:
Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben,
Der täglich sie erobern muß."
Goethe (Faust).
Anmerkungen und Erläuterungen.
hundert.“ — Ich meinerſeits bejahe jene Frage unbedingt, weil ich die feſte
Begründung des Subſtanz-Geſetzes und der mit ihm untrennbar verknüpften
Entwickelungslehre als den größten Fortſchritt zur endgültigen „Löſung
der Welträthſel
“ betrachte. Ich verkenne keineswegs das ſchwere Ge-
wicht der ſchmerzlichen Verluſte, welche die moderne Menſchheit durch den
Untergang der herrſchenden Glaubenslehren und der damit verknüpften
Zukunfts-Hoffnungen erleidet. Ich finde aber reichen Erſatz dafür in dem
unerſchöpflichen Schatze der neuen einheitlichen Weltanſchauung,
welchen uns die moderne Natur-Erkenntniß erſchloſſen hat. Ich bin feſt
überzeugt, daß das zwanzigſte Jahrhundert uns erſt zum vollen Genuſſe
dieſer Geiſtesſchätze führen wird und damit zu der von Goethe ſo herrlich
erfaßten Religion des Wahren, Guten und Schönen.
„Der Erdenkreis iſt mir genug bekannt;
Nach drüben iſt die Ausſicht uns verrannt.
Thor, wer dorthin die Augen blinzend richtet,
Sich über Wolken ſeines Gleichen dichtet!
Er ſtehe feſt und ſehe hier ſich um;
Dem Tüchtigen iſt dieſe Welt nicht ſtumm.
Was braucht er in die Ewigkeit zu ſchweifen?
Was er erkennt, läßt ſich ergreifen!
Er wandle ſo den Erdentag entlang;
Wenn Geiſter ſpuken, geh' er ſeinen Gang;
Im Weiterſchreiten find't er Qual und Glück,
Ob unbefriedigt jeden Augenblick.
Ja, dieſem Sinne bin ich ganz ergeben,
Das iſt der Weisheit letzter Schluß:
Nur der verdient ſich Freiheit wie das Leben,
Der täglich ſie erobern muß.“
Goethe (Fauſt).
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[464/0480] Anmerkungen und Erläuterungen. ²⁰⁾ hundert.“ — Ich meinerſeits bejahe jene Frage unbedingt, weil ich die feſte Begründung des Subſtanz-Geſetzes und der mit ihm untrennbar verknüpften Entwickelungslehre als den größten Fortſchritt zur endgültigen „Löſung der Welträthſel“ betrachte. Ich verkenne keineswegs das ſchwere Ge- wicht der ſchmerzlichen Verluſte, welche die moderne Menſchheit durch den Untergang der herrſchenden Glaubenslehren und der damit verknüpften Zukunfts-Hoffnungen erleidet. Ich finde aber reichen Erſatz dafür in dem unerſchöpflichen Schatze der neuen einheitlichen Weltanſchauung, welchen uns die moderne Natur-Erkenntniß erſchloſſen hat. Ich bin feſt überzeugt, daß das zwanzigſte Jahrhundert uns erſt zum vollen Genuſſe dieſer Geiſtesſchätze führen wird und damit zu der von Goethe ſo herrlich erfaßten Religion des Wahren, Guten und Schönen. „Der Erdenkreis iſt mir genug bekannt; Nach drüben iſt die Ausſicht uns verrannt. Thor, wer dorthin die Augen blinzend richtet, Sich über Wolken ſeines Gleichen dichtet! Er ſtehe feſt und ſehe hier ſich um; Dem Tüchtigen iſt dieſe Welt nicht ſtumm. Was braucht er in die Ewigkeit zu ſchweifen? Was er erkennt, läßt ſich ergreifen! Er wandle ſo den Erdentag entlang; Wenn Geiſter ſpuken, geh' er ſeinen Gang; Im Weiterſchreiten find't er Qual und Glück, Ob unbefriedigt jeden Augenblick. Ja, dieſem Sinne bin ich ganz ergeben, Das iſt der Weisheit letzter Schluß: Nur der verdient ſich Freiheit wie das Leben, Der täglich ſie erobern muß.“ Goethe (Fauſt).

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 464. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/480>, abgerufen am 18.04.2024.