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Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 4. Berlin, 1768.

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VIII. Abschnitt. Die Muthmassungen.

Fünftens muß man mit dieser Zartheit auch noch
eine gewisse Eigenschaft verbinden, welche sich mit ihr
schlecht zu reimen scheint. Es muß nämlich demohnge-
achtet doch dieses flüßige in den Nerven zu dem Nerven
eine solche Anzüglichkeit haben [Spaltenumbruch] e, daß es denselben be-
wohne und denselben nicht, vor dem verrichteten Ge-
schäfte verlasse, denn wenn es ihn verliesse und sich in
das benachbarte Zellwebe, oder in die Muskeln ergösse,
so könnte es nimmer mehr eine Bewegung vom Gehirne
bis zum Fusse, oder das Gefühl vom Fusse ins Gehirn
bringen. Wir haben bereits gezeigt, daß man in kei-
nen Theilen, ausser in den Nerven, eine Spur von einer
empfindenden Natur entdecken könne f, und daß es
also nicht scheine, daß sich das Element, welches der
Empfindung aufzuwarten bestimmt ist, in die andern
Theile zerstreuen, und sich von dem Nervenröhrchen ver-
irren sollte.

Sechstens muß sie ein solches flüßiges Wesen sein,
daran kein erweckter oder lebhafter Geschmack [Spaltenumbruch] g, Ge-
ruch, Farbe oder Wärme, oder irgend eine andre Ei-
genschaft, anzutreffen sei, welche unsre Sinnen sehr in
Bewegung setzt, denn wenn dergleichen Kraft in dem
Nervensafte anzutreffen wäre, so würde sich dieses flüs-
sige, entweder der Seele beständig vorstellen, oder doch
wenigstens machen, daß die Seele nicht bei einer stärkern
Empfindung taub werde. Ein Beispiel davon. Es
macht der Speichel, daß uns nicht schmackhaft zu sein
scheint, welches nicht salziger ist, als der Speichel. Wä-
re aber der Speichel übermäßig gesalzen, oder süß, oder
bitter, so würde dieser Geschmack der Seele beständig
vor Augen schweben.

§. 12.
e Magnetismus nennt es Lieu-
taud
physiolog. p.
256.
f p. 271.
g Die Geister sind ohne Ge-
schmack, Borrich de somno et som-
nif. n. 7. p.
8. Das Gehirn hat
keinen Geschmack, p. 19. 20. Hartley.
VIII. Abſchnitt. Die Muthmaſſungen.

Fuͤnftens muß man mit dieſer Zartheit auch noch
eine gewiſſe Eigenſchaft verbinden, welche ſich mit ihr
ſchlecht zu reimen ſcheint. Es muß naͤmlich demohnge-
achtet doch dieſes fluͤßige in den Nerven zu dem Nerven
eine ſolche Anzuͤglichkeit haben [Spaltenumbruch] e, daß es denſelben be-
wohne und denſelben nicht, vor dem verrichteten Ge-
ſchaͤfte verlaſſe, denn wenn es ihn verlieſſe und ſich in
das benachbarte Zellwebe, oder in die Muskeln ergoͤſſe,
ſo koͤnnte es nimmer mehr eine Bewegung vom Gehirne
bis zum Fuſſe, oder das Gefuͤhl vom Fuſſe ins Gehirn
bringen. Wir haben bereits gezeigt, daß man in kei-
nen Theilen, auſſer in den Nerven, eine Spur von einer
empfindenden Natur entdecken koͤnne f, und daß es
alſo nicht ſcheine, daß ſich das Element, welches der
Empfindung aufzuwarten beſtimmt iſt, in die andern
Theile zerſtreuen, und ſich von dem Nervenroͤhrchen ver-
irren ſollte.

Sechſtens muß ſie ein ſolches fluͤßiges Weſen ſein,
daran kein erweckter oder lebhafter Geſchmack [Spaltenumbruch] g, Ge-
ruch, Farbe oder Waͤrme, oder irgend eine andre Ei-
genſchaft, anzutreffen ſei, welche unſre Sinnen ſehr in
Bewegung ſetzt, denn wenn dergleichen Kraft in dem
Nervenſafte anzutreffen waͤre, ſo wuͤrde ſich dieſes fluͤſ-
ſige, entweder der Seele beſtaͤndig vorſtellen, oder doch
wenigſtens machen, daß die Seele nicht bei einer ſtaͤrkern
Empfindung taub werde. Ein Beiſpiel davon. Es
macht der Speichel, daß uns nicht ſchmackhaft zu ſein
ſcheint, welches nicht ſalziger iſt, als der Speichel. Waͤ-
re aber der Speichel uͤbermaͤßig geſalzen, oder ſuͤß, oder
bitter, ſo wuͤrde dieſer Geſchmack der Seele beſtaͤndig
vor Augen ſchweben.

§. 12.
e Magnetismus nennt es Lieu-
taud
phyſiolog. p.
256.
f p. 271.
g Die Geiſter ſind ohne Ge-
ſchmack, Borrich de ſomno et ſom-
nif. n. 7. p.
8. Das Gehirn hat
keinen Geſchmack, p. 19. 20. Hartley.
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[587/0623] VIII. Abſchnitt. Die Muthmaſſungen. Fuͤnftens muß man mit dieſer Zartheit auch noch eine gewiſſe Eigenſchaft verbinden, welche ſich mit ihr ſchlecht zu reimen ſcheint. Es muß naͤmlich demohnge- achtet doch dieſes fluͤßige in den Nerven zu dem Nerven eine ſolche Anzuͤglichkeit haben e, daß es denſelben be- wohne und denſelben nicht, vor dem verrichteten Ge- ſchaͤfte verlaſſe, denn wenn es ihn verlieſſe und ſich in das benachbarte Zellwebe, oder in die Muskeln ergoͤſſe, ſo koͤnnte es nimmer mehr eine Bewegung vom Gehirne bis zum Fuſſe, oder das Gefuͤhl vom Fuſſe ins Gehirn bringen. Wir haben bereits gezeigt, daß man in kei- nen Theilen, auſſer in den Nerven, eine Spur von einer empfindenden Natur entdecken koͤnne f, und daß es alſo nicht ſcheine, daß ſich das Element, welches der Empfindung aufzuwarten beſtimmt iſt, in die andern Theile zerſtreuen, und ſich von dem Nervenroͤhrchen ver- irren ſollte. Sechſtens muß ſie ein ſolches fluͤßiges Weſen ſein, daran kein erweckter oder lebhafter Geſchmack g, Ge- ruch, Farbe oder Waͤrme, oder irgend eine andre Ei- genſchaft, anzutreffen ſei, welche unſre Sinnen ſehr in Bewegung ſetzt, denn wenn dergleichen Kraft in dem Nervenſafte anzutreffen waͤre, ſo wuͤrde ſich dieſes fluͤſ- ſige, entweder der Seele beſtaͤndig vorſtellen, oder doch wenigſtens machen, daß die Seele nicht bei einer ſtaͤrkern Empfindung taub werde. Ein Beiſpiel davon. Es macht der Speichel, daß uns nicht ſchmackhaft zu ſein ſcheint, welches nicht ſalziger iſt, als der Speichel. Waͤ- re aber der Speichel uͤbermaͤßig geſalzen, oder ſuͤß, oder bitter, ſo wuͤrde dieſer Geſchmack der Seele beſtaͤndig vor Augen ſchweben. §. 12. e Magnetismus nennt es Lieu- taud phyſiolog. p. 256. f p. 271. g Die Geiſter ſind ohne Ge- ſchmack, Borrich de ſomno et ſom- nif. n. 7. p. 8. Das Gehirn hat keinen Geſchmack, p. 19. 20. Hartley.

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Zitationshilfe: Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 4. Berlin, 1768, S. 587. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende04_1768/623>, abgerufen am 18.04.2024.