Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 4. Berlin, 1768.

Bild:
<< vorherige Seite
Das Gehirn und die Nerven. X. Buch.

Es würde auch die Natur beiderlei Arten von Ner-
venfäden nicht so sorgfältig untereinander gemischt ha-
ben, wofern ihr Wesen verschieden wäre.

Es ist endlich kein einziger Nerve, der willkürlichen
Bewegung|, oder der Empfindung so anhängig, daß
nicht einer und eben derselbe Nerve, wofern er von einer
mächtigen Ursache gereitzt wird, wider Willen an sei-
nen Muskeln Krämpfe erwecken sollte, und wenn im Ge-
gentheil die Krankheit gehoben worden, so unterwer-
fen sich die wider Willen in Krampf versetzte Nerven,
dem Befehle der Seele wieder. Folglich gehen die Ner-
ven aus der thierischen Klasse, in dieienige über, wel-
che der Seelen Gerichtsba keit nicht erkannt. Folglich
sind keine unterschiedne Klassen von Lebensnerven vor-
handen.

Es versieht ferner, nach der Hipotese, das kleine
Gehirn, den dritten, und vierten Nerven, den harten
Nerven des siebenten, und den neunten. Diese Ner-
ven aber verrichten kein einziges Lebensgeschäfte; folg-
lich hat man vom kleinen Gehirne Fäserchen, welche,
wider die Hipotese, einzig und allein zur Empfindung
und zur Bewegung dienen.

Was Ridley endlich zur Beschönigung dieser Mei-
nung vorbringt, scheint mir seine Hipotese völlig über
den Haufen zustossen. Man verlangt nämlich eine The-
orie zu haben, welche erklären könne, warum im
Schlafe, und im Schlagflusse die Kräfte des Lebens im-
mer noch sortwirken, wenn gleich die thierischen Kräfte,
die Empfindung und die Bewegung, aufgehört haben.
Wenn nun die Nerven des Lebens, aus dem thierischen
Bezirke vermischte Schnüre, wie es die Hipotese haben
will, empfangen, so werden diese Nerven theils in
Ruhe bleiben, denn es setzt der Schlaf eine Trägheit des
grossen Gehirns, und der daraus entspringenden Ner-

ven
Das Gehirn und die Nerven. X. Buch.

Es wuͤrde auch die Natur beiderlei Arten von Ner-
venfaͤden nicht ſo ſorgfaͤltig untereinander gemiſcht ha-
ben, wofern ihr Weſen verſchieden waͤre.

Es iſt endlich kein einziger Nerve, der willkuͤrlichen
Bewegung|, oder der Empfindung ſo anhaͤngig, daß
nicht einer und eben derſelbe Nerve, wofern er von einer
maͤchtigen Urſache gereitzt wird, wider Willen an ſei-
nen Muskeln Kraͤmpfe erwecken ſollte, und wenn im Ge-
gentheil die Krankheit gehoben worden, ſo unterwer-
fen ſich die wider Willen in Krampf verſetzte Nerven,
dem Befehle der Seele wieder. Folglich gehen die Ner-
ven aus der thieriſchen Klaſſe, in dieienige uͤber, wel-
che der Seelen Gerichtsba keit nicht erkannt. Folglich
ſind keine unterſchiedne Klaſſen von Lebensnerven vor-
handen.

Es verſieht ferner, nach der Hipoteſe, das kleine
Gehirn, den dritten, und vierten Nerven, den harten
Nerven des ſiebenten, und den neunten. Dieſe Ner-
ven aber verrichten kein einziges Lebensgeſchaͤfte; folg-
lich hat man vom kleinen Gehirne Faͤſerchen, welche,
wider die Hipoteſe, einzig und allein zur Empfindung
und zur Bewegung dienen.

Was Ridley endlich zur Beſchoͤnigung dieſer Mei-
nung vorbringt, ſcheint mir ſeine Hipoteſe voͤllig uͤber
den Haufen zuſtoſſen. Man verlangt naͤmlich eine The-
orie zu haben, welche erklaͤren koͤnne, warum im
Schlafe, und im Schlagfluſſe die Kraͤfte des Lebens im-
mer noch ſortwirken, wenn gleich die thieriſchen Kraͤfte,
die Empfindung und die Bewegung, aufgehoͤrt haben.
Wenn nun die Nerven des Lebens, aus dem thieriſchen
Bezirke vermiſchte Schnuͤre, wie es die Hipoteſe haben
will, empfangen, ſo werden dieſe Nerven theils in
Ruhe bleiben, denn es ſetzt der Schlaf eine Traͤgheit des
groſſen Gehirns, und der daraus entſpringenden Ner-

ven
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0648" n="612"/>
            <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Das Gehirn und die Nerven. <hi rendition="#aq">X.</hi> Buch.</hi> </fw><lb/>
            <p>Es wu&#x0364;rde auch die Natur beiderlei Arten von Ner-<lb/>
venfa&#x0364;den nicht &#x017F;o &#x017F;orgfa&#x0364;ltig untereinander gemi&#x017F;cht ha-<lb/>
ben, wofern ihr We&#x017F;en ver&#x017F;chieden wa&#x0364;re.</p><lb/>
            <p>Es i&#x017F;t endlich kein einziger Nerve, der willku&#x0364;rlichen<lb/>
Bewegung|, oder der Empfindung &#x017F;o anha&#x0364;ngig, daß<lb/>
nicht einer und eben der&#x017F;elbe Nerve, wofern er von einer<lb/>
ma&#x0364;chtigen Ur&#x017F;ache gereitzt wird, wider Willen an &#x017F;ei-<lb/>
nen Muskeln Kra&#x0364;mpfe erwecken &#x017F;ollte, und wenn im Ge-<lb/>
gentheil die Krankheit gehoben worden, &#x017F;o unterwer-<lb/>
fen &#x017F;ich die wider Willen in Krampf ver&#x017F;etzte Nerven,<lb/>
dem Befehle der Seele wieder. Folglich gehen die Ner-<lb/>
ven aus der thieri&#x017F;chen Kla&#x017F;&#x017F;e, in dieienige u&#x0364;ber, wel-<lb/>
che der Seelen Gerichtsba keit nicht erkannt. Folglich<lb/>
&#x017F;ind keine unter&#x017F;chiedne Kla&#x017F;&#x017F;en von Lebensnerven vor-<lb/>
handen.</p><lb/>
            <p>Es ver&#x017F;ieht ferner, nach der Hipote&#x017F;e, das kleine<lb/>
Gehirn, den dritten, und vierten Nerven, den harten<lb/>
Nerven des &#x017F;iebenten, und den neunten. Die&#x017F;e Ner-<lb/>
ven aber verrichten kein einziges Lebensge&#x017F;cha&#x0364;fte; folg-<lb/>
lich hat man vom kleinen Gehirne Fa&#x0364;&#x017F;erchen, welche,<lb/>
wider die Hipote&#x017F;e, einzig und allein zur Empfindung<lb/>
und zur Bewegung dienen.</p><lb/>
            <p>Was <hi rendition="#fr">Ridley</hi> endlich zur Be&#x017F;cho&#x0364;nigung die&#x017F;er Mei-<lb/>
nung vorbringt, &#x017F;cheint mir &#x017F;eine Hipote&#x017F;e vo&#x0364;llig u&#x0364;ber<lb/>
den Haufen zu&#x017F;to&#x017F;&#x017F;en. Man verlangt na&#x0364;mlich eine The-<lb/>
orie zu haben, welche erkla&#x0364;ren ko&#x0364;nne, warum im<lb/>
Schlafe, und im Schlagflu&#x017F;&#x017F;e die Kra&#x0364;fte des Lebens im-<lb/>
mer noch &#x017F;ortwirken, wenn gleich die thieri&#x017F;chen Kra&#x0364;fte,<lb/>
die Empfindung und die Bewegung, aufgeho&#x0364;rt haben.<lb/>
Wenn nun die Nerven des Lebens, aus dem thieri&#x017F;chen<lb/>
Bezirke vermi&#x017F;chte Schnu&#x0364;re, wie es die Hipote&#x017F;e haben<lb/>
will, empfangen, &#x017F;o werden die&#x017F;e Nerven theils in<lb/>
Ruhe bleiben, denn es &#x017F;etzt der Schlaf eine Tra&#x0364;gheit des<lb/>
gro&#x017F;&#x017F;en Gehirns, und der daraus ent&#x017F;pringenden Ner-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">ven</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[612/0648] Das Gehirn und die Nerven. X. Buch. Es wuͤrde auch die Natur beiderlei Arten von Ner- venfaͤden nicht ſo ſorgfaͤltig untereinander gemiſcht ha- ben, wofern ihr Weſen verſchieden waͤre. Es iſt endlich kein einziger Nerve, der willkuͤrlichen Bewegung|, oder der Empfindung ſo anhaͤngig, daß nicht einer und eben derſelbe Nerve, wofern er von einer maͤchtigen Urſache gereitzt wird, wider Willen an ſei- nen Muskeln Kraͤmpfe erwecken ſollte, und wenn im Ge- gentheil die Krankheit gehoben worden, ſo unterwer- fen ſich die wider Willen in Krampf verſetzte Nerven, dem Befehle der Seele wieder. Folglich gehen die Ner- ven aus der thieriſchen Klaſſe, in dieienige uͤber, wel- che der Seelen Gerichtsba keit nicht erkannt. Folglich ſind keine unterſchiedne Klaſſen von Lebensnerven vor- handen. Es verſieht ferner, nach der Hipoteſe, das kleine Gehirn, den dritten, und vierten Nerven, den harten Nerven des ſiebenten, und den neunten. Dieſe Ner- ven aber verrichten kein einziges Lebensgeſchaͤfte; folg- lich hat man vom kleinen Gehirne Faͤſerchen, welche, wider die Hipoteſe, einzig und allein zur Empfindung und zur Bewegung dienen. Was Ridley endlich zur Beſchoͤnigung dieſer Mei- nung vorbringt, ſcheint mir ſeine Hipoteſe voͤllig uͤber den Haufen zuſtoſſen. Man verlangt naͤmlich eine The- orie zu haben, welche erklaͤren koͤnne, warum im Schlafe, und im Schlagfluſſe die Kraͤfte des Lebens im- mer noch ſortwirken, wenn gleich die thieriſchen Kraͤfte, die Empfindung und die Bewegung, aufgehoͤrt haben. Wenn nun die Nerven des Lebens, aus dem thieriſchen Bezirke vermiſchte Schnuͤre, wie es die Hipoteſe haben will, empfangen, ſo werden dieſe Nerven theils in Ruhe bleiben, denn es ſetzt der Schlaf eine Traͤgheit des groſſen Gehirns, und der daraus entſpringenden Ner- ven

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende04_1768
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende04_1768/648
Zitationshilfe: Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 4. Berlin, 1768, S. 612. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende04_1768/648>, abgerufen am 25.04.2024.