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Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 5. Berlin, 1772.

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II. Abschnitt. Der Wille.

Jm Schrekken öffnen die Muskeln den Mund und
die Augen mit Gewalt, und die Hände werden aufge-
hoben (f).

§. 9.
Daraus entsteht die Phisionomie.

Es ist nicht gar zu lange, daß man mit Recht einge-
sehen, wie sich die meisten herrschende Affekten aus dem
Anblikke eines Gesichtes lesen lassen, daß man einen freu-
digen und scherzhaften, einen traurigen und ernsthaften,
einen stolzen, sanftmüthigen und gutartigen, einen neidi-
schen, unschuldigen und schamhaften Menschen, und kurz,
fast alle auch gemischte Affekten, oder angewöhnte Laster,
oder Tugenden, durch deutliche Merkmaale am Gesichte
und ganzen Körper, sehr leicht unterscheiden kann. Es
kömmt dieses daher, weil Muskeln (g), die einem gewissen
Affekte zugeordnet sind, in einem Menschen, bei dem die-
ser Affekt zur herrschenden Natur geworden, öfters wir-
ken oder gebraucht werden, und es müssen sich also an
jachzornigen Menschen die Muskeln des Grimms öfters
zusammen ziehen. Von diesem oft wiederholten Gebrau-
che geschicht es nun, daß diese Muskeln stärker wachsen,
und sich über die andern, gleichsam schlafende Muskeln
des Temperaments einen Vorzug heraus nehmen, und
wenn der Affekt gleich nachgelassen, dennoch eine Spur
von dem herrschenden Affekte im Gesichte übrig bleibt.

Dahin kann man rechnen, was Lancisius für die
Chiromantie geschrieben, da er nämlich will, daß die gros-
sen Falten in der Haut Stärke, und gute Gesundheit der
Frucht, und des Menschen, kleine oder gar keine Falten
dagegen eine Schwäche anzeigen sollen.

Folglich ist es nicht nöthig, zu der Seele als einer
Baumeisterin die Zuflucht zu nehmen (h), und zu glau-

ben,
(f) [Spaltenumbruch] IDEM p. 60.
(g) ZAMBECCARI bei dem
CORTE p. 222. lettres sur les phy-
[Spaltenumbruch] sionomies p. 188. ANDRY ortho-
pod. T. II. p.
30.
(h) STAHL de animi morb.
II. Abſchnitt. Der Wille.

Jm Schrekken oͤffnen die Muſkeln den Mund und
die Augen mit Gewalt, und die Haͤnde werden aufge-
hoben (f).

§. 9.
Daraus entſteht die Phiſionomie.

Es iſt nicht gar zu lange, daß man mit Recht einge-
ſehen, wie ſich die meiſten herrſchende Affekten aus dem
Anblikke eines Geſichtes leſen laſſen, daß man einen freu-
digen und ſcherzhaften, einen traurigen und ernſthaften,
einen ſtolzen, ſanftmuͤthigen und gutartigen, einen neidi-
ſchen, unſchuldigen und ſchamhaften Menſchen, und kurz,
faſt alle auch gemiſchte Affekten, oder angewoͤhnte Laſter,
oder Tugenden, durch deutliche Merkmaale am Geſichte
und ganzen Koͤrper, ſehr leicht unterſcheiden kann. Es
koͤmmt dieſes daher, weil Muſkeln (g), die einem gewiſſen
Affekte zugeordnet ſind, in einem Menſchen, bei dem die-
ſer Affekt zur herrſchenden Natur geworden, oͤfters wir-
ken oder gebraucht werden, und es muͤſſen ſich alſo an
jachzornigen Menſchen die Muſkeln des Grimms oͤfters
zuſammen ziehen. Von dieſem oft wiederholten Gebrau-
che geſchicht es nun, daß dieſe Muſkeln ſtaͤrker wachſen,
und ſich uͤber die andern, gleichſam ſchlafende Muſkeln
des Temperaments einen Vorzug heraus nehmen, und
wenn der Affekt gleich nachgelaſſen, dennoch eine Spur
von dem herrſchenden Affekte im Geſichte uͤbrig bleibt.

Dahin kann man rechnen, was Lanciſius fuͤr die
Chiromantie geſchrieben, da er naͤmlich will, daß die groſ-
ſen Falten in der Haut Staͤrke, und gute Geſundheit der
Frucht, und des Menſchen, kleine oder gar keine Falten
dagegen eine Schwaͤche anzeigen ſollen.

Folglich iſt es nicht noͤthig, zu der Seele als einer
Baumeiſterin die Zuflucht zu nehmen (h), und zu glau-

ben,
(f) [Spaltenumbruch] IDEM p. 60.
(g) ZAMBECCARI bei dem
CORTE p. 222. lettres ſur les phy-
[Spaltenumbruch] ſionomies p. 188. ANDRY ortho-
pod. T. II. p.
30.
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[1135/1153] II. Abſchnitt. Der Wille. Jm Schrekken oͤffnen die Muſkeln den Mund und die Augen mit Gewalt, und die Haͤnde werden aufge- hoben (f). §. 9. Daraus entſteht die Phiſionomie. Es iſt nicht gar zu lange, daß man mit Recht einge- ſehen, wie ſich die meiſten herrſchende Affekten aus dem Anblikke eines Geſichtes leſen laſſen, daß man einen freu- digen und ſcherzhaften, einen traurigen und ernſthaften, einen ſtolzen, ſanftmuͤthigen und gutartigen, einen neidi- ſchen, unſchuldigen und ſchamhaften Menſchen, und kurz, faſt alle auch gemiſchte Affekten, oder angewoͤhnte Laſter, oder Tugenden, durch deutliche Merkmaale am Geſichte und ganzen Koͤrper, ſehr leicht unterſcheiden kann. Es koͤmmt dieſes daher, weil Muſkeln (g), die einem gewiſſen Affekte zugeordnet ſind, in einem Menſchen, bei dem die- ſer Affekt zur herrſchenden Natur geworden, oͤfters wir- ken oder gebraucht werden, und es muͤſſen ſich alſo an jachzornigen Menſchen die Muſkeln des Grimms oͤfters zuſammen ziehen. Von dieſem oft wiederholten Gebrau- che geſchicht es nun, daß dieſe Muſkeln ſtaͤrker wachſen, und ſich uͤber die andern, gleichſam ſchlafende Muſkeln des Temperaments einen Vorzug heraus nehmen, und wenn der Affekt gleich nachgelaſſen, dennoch eine Spur von dem herrſchenden Affekte im Geſichte uͤbrig bleibt. Dahin kann man rechnen, was Lanciſius fuͤr die Chiromantie geſchrieben, da er naͤmlich will, daß die groſ- ſen Falten in der Haut Staͤrke, und gute Geſundheit der Frucht, und des Menſchen, kleine oder gar keine Falten dagegen eine Schwaͤche anzeigen ſollen. Folglich iſt es nicht noͤthig, zu der Seele als einer Baumeiſterin die Zuflucht zu nehmen (h), und zu glau- ben, (f) IDEM p. 60. (g) ZAMBECCARI bei dem CORTE p. 222. lettres ſur les phy- ſionomies p. 188. ANDRY ortho- pod. T. II. p. 30. (h) STAHL de animi morb.

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Zitationshilfe: Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 5. Berlin, 1772, S. 1135. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende05_1772/1153>, abgerufen am 28.03.2024.