Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Hamann, Johann Georg]: Sokratische Denkwürdigkeiten. Amsterdam [i. e. Königsberg], 1759.

Bild:
<< vorherige Seite

lauter Lehnsätze und Zweifel: so gewinnt
und verliert der Glaube gleich viel bey dem
geschicktesten Rabulisten und ehrlichsten Sach-
walter. Der Glaube ist kein Werk der Ver-
nunft und kann daher auch keinem Angrif
derselben unterliegen; weil Glauben so we-
nig durch Gründe geschieht als Schmecken
und Sehen.

Die Beziehung und Uebereinstimmung der
Begriffe ist eben dasselbe in einer Demonstra-
tion, was Verhältnis und Symmetrie der
Linien, Schallwürbel und Farben in der
musikalischen Composition und Malerey ist.
Der Philosoph ist dem Gesetz der Nachah-
mung so gut unterworfen als der Poet. Für
diesen ist seine Muse und ihr Hieroglyphi-
sches Schattenspiel so wahr als die Vernunft
und das Lehrgebäude derselben für jenen.
Das Schicksal setze den grösten Weltweisen
und Dichter in Umstände, wo sie sich beyde
selbst fühlen; so verleugnet der eine seine Ver-
nunft und entdeckt uns, daß er keine beste Welt
glaubt, so gut er sie auch beweisen kann, und
der andere sieht sich seiner Muse und Schutz-
engel beraubt, bey dem Tode seiner Meta.

Die

lauter Lehnſaͤtze und Zweifel: ſo gewinnt
und verliert der Glaube gleich viel bey dem
geſchickteſten Rabuliſten und ehrlichſten Sach-
walter. Der Glaube iſt kein Werk der Ver-
nunft und kann daher auch keinem Angrif
derſelben unterliegen; weil Glauben ſo we-
nig durch Gruͤnde geſchieht als Schmecken
und Sehen.

Die Beziehung und Uebereinſtimmung der
Begriffe iſt eben daſſelbe in einer Demonſtra-
tion, was Verhaͤltnis und Symmetrie der
Linien, Schallwuͤrbel und Farben in der
muſikaliſchen Compoſition und Malerey iſt.
Der Philoſoph iſt dem Geſetz der Nachah-
mung ſo gut unterworfen als der Poet. Fuͤr
dieſen iſt ſeine Muſe und ihr Hieroglyphi-
ſches Schattenſpiel ſo wahr als die Vernunft
und das Lehrgebaͤude derſelben fuͤr jenen.
Das Schickſal ſetze den groͤſten Weltweiſen
und Dichter in Umſtaͤnde, wo ſie ſich beyde
ſelbſt fuͤhlen; ſo verleugnet der eine ſeine Ver-
nunft und entdeckt uns, daß er keine beſte Welt
glaubt, ſo gut er ſie auch beweiſen kann, und
der andere ſieht ſich ſeiner Muſe und Schutz-
engel beraubt, bey dem Tode ſeiner Meta.

Die
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0054" n="50"/>
lauter Lehn&#x017F;a&#x0364;tze und Zweifel: &#x017F;o gewinnt<lb/>
und verliert der Glaube gleich viel bey dem<lb/>
ge&#x017F;chickte&#x017F;ten Rabuli&#x017F;ten und ehrlich&#x017F;ten Sach-<lb/>
walter. Der Glaube i&#x017F;t kein Werk der Ver-<lb/>
nunft und kann daher auch keinem Angrif<lb/>
der&#x017F;elben unterliegen; weil <hi rendition="#fr">Glauben</hi> &#x017F;o we-<lb/>
nig durch Gru&#x0364;nde ge&#x017F;chieht als <hi rendition="#fr">Schmecken</hi><lb/>
und <hi rendition="#fr">Sehen.</hi></p><lb/>
            <p>Die Beziehung und Ueberein&#x017F;timmung der<lb/>
Begriffe i&#x017F;t eben da&#x017F;&#x017F;elbe in einer Demon&#x017F;tra-<lb/>
tion, was Verha&#x0364;ltnis und Symmetrie der<lb/>
Linien, Schallwu&#x0364;rbel und Farben in der<lb/>
mu&#x017F;ikali&#x017F;chen Compo&#x017F;ition und Malerey i&#x017F;t.<lb/>
Der Philo&#x017F;oph i&#x017F;t dem Ge&#x017F;etz der Nachah-<lb/>
mung &#x017F;o gut unterworfen als der Poet. Fu&#x0364;r<lb/>
die&#x017F;en i&#x017F;t &#x017F;eine Mu&#x017F;e und ihr Hieroglyphi-<lb/>
&#x017F;ches Schatten&#x017F;piel &#x017F;o wahr als die Vernunft<lb/>
und das Lehrgeba&#x0364;ude der&#x017F;elben fu&#x0364;r jenen.<lb/>
Das Schick&#x017F;al &#x017F;etze den gro&#x0364;&#x017F;ten Weltwei&#x017F;en<lb/>
und Dichter in Um&#x017F;ta&#x0364;nde, wo &#x017F;ie &#x017F;ich beyde<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t fu&#x0364;hlen; &#x017F;o verleugnet der eine &#x017F;eine Ver-<lb/>
nunft und entdeckt uns, daß er keine be&#x017F;te Welt<lb/>
glaubt, &#x017F;o gut er &#x017F;ie auch bewei&#x017F;en kann, und<lb/>
der andere &#x017F;ieht &#x017F;ich &#x017F;einer Mu&#x017F;e und Schutz-<lb/>
engel beraubt, bey dem Tode &#x017F;einer <hi rendition="#fr">Meta.</hi><lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Die</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[50/0054] lauter Lehnſaͤtze und Zweifel: ſo gewinnt und verliert der Glaube gleich viel bey dem geſchickteſten Rabuliſten und ehrlichſten Sach- walter. Der Glaube iſt kein Werk der Ver- nunft und kann daher auch keinem Angrif derſelben unterliegen; weil Glauben ſo we- nig durch Gruͤnde geſchieht als Schmecken und Sehen. Die Beziehung und Uebereinſtimmung der Begriffe iſt eben daſſelbe in einer Demonſtra- tion, was Verhaͤltnis und Symmetrie der Linien, Schallwuͤrbel und Farben in der muſikaliſchen Compoſition und Malerey iſt. Der Philoſoph iſt dem Geſetz der Nachah- mung ſo gut unterworfen als der Poet. Fuͤr dieſen iſt ſeine Muſe und ihr Hieroglyphi- ſches Schattenſpiel ſo wahr als die Vernunft und das Lehrgebaͤude derſelben fuͤr jenen. Das Schickſal ſetze den groͤſten Weltweiſen und Dichter in Umſtaͤnde, wo ſie ſich beyde ſelbſt fuͤhlen; ſo verleugnet der eine ſeine Ver- nunft und entdeckt uns, daß er keine beſte Welt glaubt, ſo gut er ſie auch beweiſen kann, und der andere ſieht ſich ſeiner Muſe und Schutz- engel beraubt, bey dem Tode ſeiner Meta. Die

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/hamann_denkwuerdigkeiten_1759
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/hamann_denkwuerdigkeiten_1759/54
Zitationshilfe: [Hamann, Johann Georg]: Sokratische Denkwürdigkeiten. Amsterdam [i. e. Königsberg], 1759, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hamann_denkwuerdigkeiten_1759/54>, abgerufen am 23.04.2024.