Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Hamann, Johann Georg]: Sokratische Denkwürdigkeiten. Amsterdam [i. e. Königsberg], 1759.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Einbildungskraft, wäre sie ein Sonnen-
pferd
und hätte Flügel der Morgenröthe,
kann also keine Schöpferinn des Glaubens
seyn.

Jch weiß für des Sokrates Zeugnis von
seiner Unwissenheit kein ehrwürdiger Siegel
und zugleich keinen bessern Schlüssel als den
Orakelspruch des grossen Lehrers der Hey-
den:

Ei de tis dokei eidenai ti oudepo nuden
egnoke kathos dei gnonai. Ei de tis agapa
ton ThEON outos egnotai up auton.
So jemand sich dünken läßt, er
wisse etwas, der weiß noch nichts, wie
er wissen soll. So aber jemand Gott
liebt, der wird von ihm erkannt.
*)

-- -- wie Sokrates vom Apoll für ei-
nen Weisen. Wie aber das Korn aller un-
serer natürlichen Weisheit verwesen, in Un-
wissenheit vergehen muß, und wie aus die-
sem Tode, aus diesem Nichts das Leben
und Wesen einer höheren Erkenntniß her-
vorkeimen und neugeschaffen werde; so weit
reicht die Nase eines Sophisten nicht. Kein

Maul-
*) 1 Kor. VIII.
D 2

Die Einbildungskraft, waͤre ſie ein Sonnen-
pferd
und haͤtte Fluͤgel der Morgenroͤthe,
kann alſo keine Schoͤpferinn des Glaubens
ſeyn.

Jch weiß fuͤr des Sokrates Zeugnis von
ſeiner Unwiſſenheit kein ehrwuͤrdiger Siegel
und zugleich keinen beſſern Schluͤſſel als den
Orakelſpruch des groſſen Lehrers der Hey-
den:

Ει δε τις δοκει ειδεναι τι ουδεπω νυδεν
εγνωκε καϑως δει γνωναι. Ει δε τις αγαπα
τον ΘΕΟΝ ουτος εγνωται υπ αυτον.
So jemand ſich duͤnken laͤßt, er
wiſſe etwas, der weiß noch nichts, wie
er wiſſen ſoll. So aber jemand Gott
liebt, der wird von ihm erkannt.
*)

— — wie Sokrates vom Apoll fuͤr ei-
nen Weiſen. Wie aber das Korn aller un-
ſerer natuͤrlichen Weisheit verweſen, in Un-
wiſſenheit vergehen muß, und wie aus die-
ſem Tode, aus dieſem Nichts das Leben
und Weſen einer hoͤheren Erkenntniß her-
vorkeimen und neugeſchaffen werde; ſo weit
reicht die Naſe eines Sophiſten nicht. Kein

Maul-
*) 1 Kor. VIII.
D 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0055" n="51"/>
Die Einbildungskraft, wa&#x0364;re &#x017F;ie ein <hi rendition="#fr">Sonnen-<lb/>
pferd</hi> und ha&#x0364;tte Flu&#x0364;gel der Morgenro&#x0364;the,<lb/>
kann al&#x017F;o keine Scho&#x0364;pferinn des Glaubens<lb/>
&#x017F;eyn.</p><lb/>
            <p>Jch weiß fu&#x0364;r des Sokrates Zeugnis von<lb/>
&#x017F;einer Unwi&#x017F;&#x017F;enheit kein ehrwu&#x0364;rdiger Siegel<lb/>
und zugleich keinen be&#x017F;&#x017F;ern Schlu&#x0364;&#x017F;&#x017F;el als den<lb/>
Orakel&#x017F;pruch des gro&#x017F;&#x017F;en <hi rendition="#fr">Lehrers der Hey-<lb/>
den:</hi></p><lb/>
            <cit>
              <quote>&#x0395;&#x03B9; &#x03B4;&#x03B5; &#x03C4;&#x03B9;&#x03C2; &#x03B4;&#x03BF;&#x03BA;&#x03B5;&#x03B9; &#x03B5;&#x03B9;&#x03B4;&#x03B5;&#x03BD;&#x03B1;&#x03B9; &#x03C4;&#x03B9; &#x03BF;&#x03C5;&#x03B4;&#x03B5;&#x03C0;&#x03C9; &#x03BD;&#x03C5;&#x03B4;&#x03B5;&#x03BD;<lb/>
&#x03B5;&#x03B3;&#x03BD;&#x03C9;&#x03BA;&#x03B5; &#x03BA;&#x03B1;&#x03D1;&#x03C9;&#x03C2; &#x03B4;&#x03B5;&#x03B9; &#x03B3;&#x03BD;&#x03C9;&#x03BD;&#x03B1;&#x03B9;. &#x0395;&#x03B9; &#x03B4;&#x03B5; &#x03C4;&#x03B9;&#x03C2; &#x03B1;&#x03B3;&#x03B1;&#x03C0;&#x03B1;<lb/>
&#x03C4;&#x03BF;&#x03BD; &#x0398;&#x0395;&#x039F;&#x039D; &#x03BF;&#x03C5;&#x03C4;&#x03BF;&#x03C2; &#x03B5;&#x03B3;&#x03BD;&#x03C9;&#x03C4;&#x03B1;&#x03B9; &#x03C5;&#x03C0; &#x03B1;&#x03C5;&#x03C4;&#x03BF;&#x03BD;.<lb/><hi rendition="#fr">So jemand &#x017F;ich du&#x0364;nken la&#x0364;ßt, er<lb/>
wi&#x017F;&#x017F;e etwas, der weiß noch nichts, wie<lb/>
er wi&#x017F;&#x017F;en &#x017F;oll. So aber jemand Gott<lb/>
liebt, der wird von ihm erkannt.</hi> <note place="foot" n="*)">1 Kor. <hi rendition="#aq">VIII.</hi></note></quote>
              <bibl/>
            </cit><lb/>
            <p>&#x2014; &#x2014; wie Sokrates vom Apoll fu&#x0364;r ei-<lb/>
nen <hi rendition="#fr">Wei&#x017F;en.</hi> Wie aber das Korn aller un-<lb/>
&#x017F;erer natu&#x0364;rlichen Weisheit verwe&#x017F;en, in Un-<lb/>
wi&#x017F;&#x017F;enheit vergehen muß, und wie aus die-<lb/>
&#x017F;em <hi rendition="#fr">Tode,</hi> aus die&#x017F;em <hi rendition="#fr">Nichts</hi> das <hi rendition="#fr">Leben</hi><lb/>
und <hi rendition="#fr">We&#x017F;en</hi> einer ho&#x0364;heren Erkenntniß her-<lb/>
vorkeimen und neuge&#x017F;chaffen werde; &#x017F;o weit<lb/>
reicht die <hi rendition="#fr">Na&#x017F;e</hi> eines Sophi&#x017F;ten nicht. Kein<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">D 2</fw><fw place="bottom" type="catch">Maul-</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[51/0055] Die Einbildungskraft, waͤre ſie ein Sonnen- pferd und haͤtte Fluͤgel der Morgenroͤthe, kann alſo keine Schoͤpferinn des Glaubens ſeyn. Jch weiß fuͤr des Sokrates Zeugnis von ſeiner Unwiſſenheit kein ehrwuͤrdiger Siegel und zugleich keinen beſſern Schluͤſſel als den Orakelſpruch des groſſen Lehrers der Hey- den: Ει δε τις δοκει ειδεναι τι ουδεπω νυδεν εγνωκε καϑως δει γνωναι. Ει δε τις αγαπα τον ΘΕΟΝ ουτος εγνωται υπ αυτον. So jemand ſich duͤnken laͤßt, er wiſſe etwas, der weiß noch nichts, wie er wiſſen ſoll. So aber jemand Gott liebt, der wird von ihm erkannt. *) — — wie Sokrates vom Apoll fuͤr ei- nen Weiſen. Wie aber das Korn aller un- ſerer natuͤrlichen Weisheit verweſen, in Un- wiſſenheit vergehen muß, und wie aus die- ſem Tode, aus dieſem Nichts das Leben und Weſen einer hoͤheren Erkenntniß her- vorkeimen und neugeſchaffen werde; ſo weit reicht die Naſe eines Sophiſten nicht. Kein Maul- *) 1 Kor. VIII. D 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/hamann_denkwuerdigkeiten_1759
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/hamann_denkwuerdigkeiten_1759/55
Zitationshilfe: [Hamann, Johann Georg]: Sokratische Denkwürdigkeiten. Amsterdam [i. e. Königsberg], 1759, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hamann_denkwuerdigkeiten_1759/55>, abgerufen am 28.03.2024.