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Hartwig, Georg Ludwig: Die physische Erziehung der Kinder. Düsseldorf, 1847.

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für ihn verloren, und da, wo das fernsehende Auge
die schönste Mannigfaltigkeit von Feldern, Baum-
gruppen, Flußwindungen, Dörfern und Bergumrissen,
mit einem Worte, die tausend Einzelnheiten einer
belebten Landschaft erblickt, sieht er nur ein verwor-
renes chaotisches Nebelbild.

Ein Kurzsichtiger, der im achtzehnten Jahre zum
ersten mal eine herrliche Gegend durch eine Brille
sah, weinte Thränen der Rührung; nie hatte er sich
die Natur so reizend vorgestellt; es war ihm wie
die plötzliche Offenbarung einer schöneren Welt, als
durch das einfache Vorhalten der concav geschliffenen
Gläser, der Schleier von seinen Augen gehoben wurde.

Gewiß machen die vielen Unannehmlichkeiten,
welche die Kurzsichtigkeit im täglichen Verkehr mit
sich führt, sie zu einem weit größern Uebel, als
wofür man sie gewöhnlich hält. Sie verursacht ein
unsicheres Auftreten; das Spiel der Physiognomieen
und der Geberden geht uns dadurch verloren; sie
erschwert das Studium der Kunst oder macht es ganz
unmöglich; sie ist Schuld, daß wir oft ganz un-
schuldig gegen die Höflichkeit verstoßen.

Der Gebrauch der Gläser hilft auf die Dauer
in dieser Ausdehnung nicht, denn es ist durchaus
nicht rathsam, sie so stark zu wählen, daß sie voll-
kommen alle Unannehmlichkeiten der Kurzsichtigkeit
beseitigen, da man sonst ihre Schärfe immer steigern

fuͤr ihn verloren, und da, wo das fernſehende Auge
die ſchoͤnſte Mannigfaltigkeit von Feldern, Baum-
gruppen, Flußwindungen, Doͤrfern und Bergumriſſen,
mit einem Worte, die tauſend Einzelnheiten einer
belebten Landſchaft erblickt, ſieht er nur ein verwor-
renes chaotiſches Nebelbild.

Ein Kurzſichtiger, der im achtzehnten Jahre zum
erſten mal eine herrliche Gegend durch eine Brille
ſah, weinte Thraͤnen der Ruͤhrung; nie hatte er ſich
die Natur ſo reizend vorgeſtellt; es war ihm wie
die ploͤtzliche Offenbarung einer ſchoͤneren Welt, als
durch das einfache Vorhalten der concav geſchliffenen
Glaͤſer, der Schleier von ſeinen Augen gehoben wurde.

Gewiß machen die vielen Unannehmlichkeiten,
welche die Kurzſichtigkeit im taͤglichen Verkehr mit
ſich führt, ſie zu einem weit groͤßern Uebel, als
wofuͤr man ſie gewoͤhnlich haͤlt. Sie verurſacht ein
unſicheres Auftreten; das Spiel der Phyſiognomieen
und der Geberden geht uns dadurch verloren; ſie
erſchwert das Studium der Kunſt oder macht es ganz
unmoͤglich; ſie iſt Schuld, daß wir oft ganz un-
ſchuldig gegen die Hoͤflichkeit verſtoßen.

Der Gebrauch der Glaͤſer hilft auf die Dauer
in dieſer Ausdehnung nicht, denn es iſt durchaus
nicht rathſam, ſie ſo ſtark zu waͤhlen, daß ſie voll-
kommen alle Unannehmlichkeiten der Kurzſichtigkeit
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[137/0147] fuͤr ihn verloren, und da, wo das fernſehende Auge die ſchoͤnſte Mannigfaltigkeit von Feldern, Baum- gruppen, Flußwindungen, Doͤrfern und Bergumriſſen, mit einem Worte, die tauſend Einzelnheiten einer belebten Landſchaft erblickt, ſieht er nur ein verwor- renes chaotiſches Nebelbild. Ein Kurzſichtiger, der im achtzehnten Jahre zum erſten mal eine herrliche Gegend durch eine Brille ſah, weinte Thraͤnen der Ruͤhrung; nie hatte er ſich die Natur ſo reizend vorgeſtellt; es war ihm wie die ploͤtzliche Offenbarung einer ſchoͤneren Welt, als durch das einfache Vorhalten der concav geſchliffenen Glaͤſer, der Schleier von ſeinen Augen gehoben wurde. Gewiß machen die vielen Unannehmlichkeiten, welche die Kurzſichtigkeit im taͤglichen Verkehr mit ſich führt, ſie zu einem weit groͤßern Uebel, als wofuͤr man ſie gewoͤhnlich haͤlt. Sie verurſacht ein unſicheres Auftreten; das Spiel der Phyſiognomieen und der Geberden geht uns dadurch verloren; ſie erſchwert das Studium der Kunſt oder macht es ganz unmoͤglich; ſie iſt Schuld, daß wir oft ganz un- ſchuldig gegen die Hoͤflichkeit verſtoßen. Der Gebrauch der Glaͤſer hilft auf die Dauer in dieſer Ausdehnung nicht, denn es iſt durchaus nicht rathſam, ſie ſo ſtark zu waͤhlen, daß ſie voll- kommen alle Unannehmlichkeiten der Kurzſichtigkeit beſeitigen, da man ſonſt ihre Schaͤrfe immer ſteigern

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Zitationshilfe: Hartwig, Georg Ludwig: Die physische Erziehung der Kinder. Düsseldorf, 1847, S. 137. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hartwig_erziehung_1847/147>, abgerufen am 28.03.2024.