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Heffter, August Wilhelm: Das Europäische Völkerrecht der Gegenwart. Berlin, 1844.

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Erstes Buch. §. 101.
B. Aus unerlaubten Handlungen. 1

101. Kennt auch das Völkerrecht keine Verbrechen in dem
Sinne des inneren Staatsrechtes, d. h. mit der Bedeutung rechts-
widriger Handlungen oder Unterlassungen, wofür man von einer
gewissen Autorität zur Rechenschaft und Strafe gezogen werden
kann: so giebt es doch auch nach Völkerrecht unerlaubte Handlun-
gen oder Verletzungen des Völkerrechts selbst, wenn eine unter sei-
nem Schutz stehende Persönlichkeit an dieser oder an den damit
zusammenhängenden wesentlichen Rechten, welche überall dieselbe
Bedeutung haben, namentlich an Freiheit, Ehre und Eigenthum
gekränkt wird, ohne daß dem Verletzenden selbst ein Rechtsgrund
hierzu zur Seite steht. Jede solche Verletzung verpflichtet den
rechtswidrig Handelnden zu einer Genugthuung des Gekränkten;
denn überall, wo durch Willkühr eine Ungleichheit hervorgebracht
ist, muß es auch eine Wiederausgleichung geben; dies ist das Ge-
setz der Gerechtigkeit.

Die Genugthuung besteht in der Zufriedenstellung des Verletz-
ten in den Schranken der Sittlichkeit. Zunächst also in der Er-
stattung des zugefügten materiellen, d. i. äußerlich erkennbaren und
schätzbaren Schadens oder angerichteten Nachtheiles, ferner aber auch
des intellectuellen Schadens, welcher der Würde des Gekränkten
in seinem eignen und der Anderen Bewußtsein zugefügt wird. Die
Verminderung dieses Rechtsbestandes ist wenigstens immer durch ent-
sprechende Handlungen oder Leistungen des Beleidigers wieder aus-
zugleichen, und das Interesse, welches der Beleidigte an der In-
tegrität seines Rechtsstandes hat, zu gewähren; 2 sonst ist dieser
befugt die Genugthuung zu erzwingen oder selbst zu nehmen, und
zwar in einer der zugefügten Kränkung analogen nicht an sich un-

1 In den meisten Systemen des Völkerrechts ist dieser wichtige Gegenstand
übergangen oder nur beiläufig gewürdigt. Groot nimmt hier einen ganz
allgemeinen Standpunct II, 20. 21. Ebenso Pufendorf III, 1. Special-
schriften sind von Jo. Petr. de Ludewig, de iur. gent. laesionibus. Hal.
1741. (Obss. sel. Halens. VIII, obs. 6. 7.) de Neumann i. W. de
delictis et poenis principum. Frcf. ad M.
1753. (beinahe unbrauchbar,
weil sich diese Schrift hauptsächlich nur auf den vormaligen deutschen
Reichsstaat bezieht).
2 Hierzu dienen beruhigende Erklärungen, Rechtsanerkennungen und Garan-
tien für die Zukunft. Beispiele s. im folg. §.
Erſtes Buch. §. 101.
B. Aus unerlaubten Handlungen. 1

101. Kennt auch das Völkerrecht keine Verbrechen in dem
Sinne des inneren Staatsrechtes, d. h. mit der Bedeutung rechts-
widriger Handlungen oder Unterlaſſungen, wofür man von einer
gewiſſen Autorität zur Rechenſchaft und Strafe gezogen werden
kann: ſo giebt es doch auch nach Völkerrecht unerlaubte Handlun-
gen oder Verletzungen des Völkerrechts ſelbſt, wenn eine unter ſei-
nem Schutz ſtehende Perſönlichkeit an dieſer oder an den damit
zuſammenhängenden weſentlichen Rechten, welche überall dieſelbe
Bedeutung haben, namentlich an Freiheit, Ehre und Eigenthum
gekränkt wird, ohne daß dem Verletzenden ſelbſt ein Rechtsgrund
hierzu zur Seite ſteht. Jede ſolche Verletzung verpflichtet den
rechtswidrig Handelnden zu einer Genugthuung des Gekränkten;
denn überall, wo durch Willkühr eine Ungleichheit hervorgebracht
iſt, muß es auch eine Wiederausgleichung geben; dies iſt das Ge-
ſetz der Gerechtigkeit.

Die Genugthuung beſteht in der Zufriedenſtellung des Verletz-
ten in den Schranken der Sittlichkeit. Zunächſt alſo in der Er-
ſtattung des zugefügten materiellen, d. i. äußerlich erkennbaren und
ſchätzbaren Schadens oder angerichteten Nachtheiles, ferner aber auch
des intellectuellen Schadens, welcher der Würde des Gekränkten
in ſeinem eignen und der Anderen Bewußtſein zugefügt wird. Die
Verminderung dieſes Rechtsbeſtandes iſt wenigſtens immer durch ent-
ſprechende Handlungen oder Leiſtungen des Beleidigers wieder aus-
zugleichen, und das Intereſſe, welches der Beleidigte an der In-
tegrität ſeines Rechtsſtandes hat, zu gewähren; 2 ſonſt iſt dieſer
befugt die Genugthuung zu erzwingen oder ſelbſt zu nehmen, und
zwar in einer der zugefügten Kränkung analogen nicht an ſich un-

1 In den meiſten Syſtemen des Völkerrechts iſt dieſer wichtige Gegenſtand
übergangen oder nur beiläufig gewürdigt. Groot nimmt hier einen ganz
allgemeinen Standpunct II, 20. 21. Ebenſo Pufendorf III, 1. Special-
ſchriften ſind von Jo. Petr. de Ludewig, de iur. gent. laesionibus. Hal.
1741. (Obss. sel. Halens. VIII, obs. 6. 7.) de Neumann i. W. de
delictis et poenis principum. Frcf. ad M.
1753. (beinahe unbrauchbar,
weil ſich dieſe Schrift hauptſächlich nur auf den vormaligen deutſchen
Reichsſtaat bezieht).
2 Hierzu dienen beruhigende Erklärungen, Rechtsanerkennungen und Garan-
tien für die Zukunft. Beiſpiele ſ. im folg. §.
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[178/0202] Erſtes Buch. §. 101. B. Aus unerlaubten Handlungen. 1 101. Kennt auch das Völkerrecht keine Verbrechen in dem Sinne des inneren Staatsrechtes, d. h. mit der Bedeutung rechts- widriger Handlungen oder Unterlaſſungen, wofür man von einer gewiſſen Autorität zur Rechenſchaft und Strafe gezogen werden kann: ſo giebt es doch auch nach Völkerrecht unerlaubte Handlun- gen oder Verletzungen des Völkerrechts ſelbſt, wenn eine unter ſei- nem Schutz ſtehende Perſönlichkeit an dieſer oder an den damit zuſammenhängenden weſentlichen Rechten, welche überall dieſelbe Bedeutung haben, namentlich an Freiheit, Ehre und Eigenthum gekränkt wird, ohne daß dem Verletzenden ſelbſt ein Rechtsgrund hierzu zur Seite ſteht. Jede ſolche Verletzung verpflichtet den rechtswidrig Handelnden zu einer Genugthuung des Gekränkten; denn überall, wo durch Willkühr eine Ungleichheit hervorgebracht iſt, muß es auch eine Wiederausgleichung geben; dies iſt das Ge- ſetz der Gerechtigkeit. Die Genugthuung beſteht in der Zufriedenſtellung des Verletz- ten in den Schranken der Sittlichkeit. Zunächſt alſo in der Er- ſtattung des zugefügten materiellen, d. i. äußerlich erkennbaren und ſchätzbaren Schadens oder angerichteten Nachtheiles, ferner aber auch des intellectuellen Schadens, welcher der Würde des Gekränkten in ſeinem eignen und der Anderen Bewußtſein zugefügt wird. Die Verminderung dieſes Rechtsbeſtandes iſt wenigſtens immer durch ent- ſprechende Handlungen oder Leiſtungen des Beleidigers wieder aus- zugleichen, und das Intereſſe, welches der Beleidigte an der In- tegrität ſeines Rechtsſtandes hat, zu gewähren; 2 ſonſt iſt dieſer befugt die Genugthuung zu erzwingen oder ſelbſt zu nehmen, und zwar in einer der zugefügten Kränkung analogen nicht an ſich un- 1 In den meiſten Syſtemen des Völkerrechts iſt dieſer wichtige Gegenſtand übergangen oder nur beiläufig gewürdigt. Groot nimmt hier einen ganz allgemeinen Standpunct II, 20. 21. Ebenſo Pufendorf III, 1. Special- ſchriften ſind von Jo. Petr. de Ludewig, de iur. gent. laesionibus. Hal. 1741. (Obss. sel. Halens. VIII, obs. 6. 7.) de Neumann i. W. de delictis et poenis principum. Frcf. ad M. 1753. (beinahe unbrauchbar, weil ſich dieſe Schrift hauptſächlich nur auf den vormaligen deutſchen Reichsſtaat bezieht). 2 Hierzu dienen beruhigende Erklärungen, Rechtsanerkennungen und Garan- tien für die Zukunft. Beiſpiele ſ. im folg. §.

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Zitationshilfe: Heffter, August Wilhelm: Das Europäische Völkerrecht der Gegenwart. Berlin, 1844, S. 178. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heffter_voelkerrecht_1844/202>, abgerufen am 19.04.2024.