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Heffter, August Wilhelm: Das Europäische Völkerrecht der Gegenwart. Berlin, 1844.

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§. 3. Einleitung.
lichen Nutzen in sich; es stößt das Unsittliche allmählig von sich
aus und fordert ein in diesen Grenzen gehaltenes Handeln. In
der That beruht es daher auf einem allseitigen ausdrücklichen oder
doch mit Gewißheit vorauszusetzenden Einverständniß (consensus),
auf der Ueberzeugung, daß jeder Theil unter gleichen Umständen die-
selbe Nöthigung so und nicht anders zu handeln empfinden werde,
es seien nun die Beweggründe äußerliche, oder moralische. Fremd
ist dagegen dem Völkerrecht eine legislative von höherer Gewalt
ausgehende Gestaltung, 1 da die Staaten in ihrer Unabhängigkeit
keiner gemeinsamen irdischen Obrigkeit unterworfen sind. Es ist das
freieste Recht welches existirt, so wie es auch in der Anwendung
einer organischen Richtergewalt mangelt. Aber sein Organ und Re-
gulator ist die öffentliche Meinung und das letzte Gericht ist die
Geschichte, welche als Dike das Recht bestätigt und als Nemesis
das Unrecht ahndet. Seine Sanction ist die Weltordnung, welche,
indem sie den Staat schuf, dennoch nicht die menschliche Freiheit
in Einzelstaaten gebannt und damit abgeschlossen, sondern dem Men-
schengeschlecht den ganzen Erdball erschlossen hat; seine Bestimmung:
der allseitigen Entwickelung des Menschengeschlechts in dem Ver-
kehr der Nationen und Staaten eine sichere Basis zu geben, wozu
jeder Einzelstaat nur Ein Hebel ist, ohne daß er sich deshalb von
dem großen Ganzen lossagen darf. 2

Zufällige Garantie des Völkerrechts: das Gleichgewicht der Staaten.

3. Ausgesetzt der Ebbe und Fluth der menschlichen Leidenschaf-
ten sowohl Einzelner wie ganzer Nationen, vorzüglich dem Reize der
Macht, über Andere zu herrschen oder sie sich dienstbar zu machen,
ist das Völkerrecht, selbst wo sich ein solches im freien Verkehr ge-
bildet hat, steten Gefahren und Verletzungen blos gestellt. Zu sei-

1 Mehrere, besonders Britische Rechtsgelehrte, z. B. Rutherforth, Institutes
of nat. law. II.
5, leugnen deshalb dem äußeren Staatenrecht jeden posi-
tiven Charakter ab. Sie sahen nicht, daß das Recht überall auch in den
Staaten selbst, wenigstens zum größten Theil, ohne den Einfluß einer hö-
heren Gewalt entstanden und befestigt war, jenes ius non scriptum, quod
consensus fecit.
Richtiger hat Mr. Austin (Province of iurispr. de-
term. Lond.
1832) die Sache durchschaut.
2 Diese großartigere Ansicht findet sich bereits in des Spaniers Franz Sua-
rez (+ 1617) Werk de legib. et Deo legisl. II, 19, 4. Vgl. v. Omp-
teda Literatur I, 187.
1*

§. 3. Einleitung.
lichen Nutzen in ſich; es ſtößt das Unſittliche allmählig von ſich
aus und fordert ein in dieſen Grenzen gehaltenes Handeln. In
der That beruht es daher auf einem allſeitigen ausdrücklichen oder
doch mit Gewißheit vorauszuſetzenden Einverſtändniß (consensus),
auf der Ueberzeugung, daß jeder Theil unter gleichen Umſtänden die-
ſelbe Nöthigung ſo und nicht anders zu handeln empfinden werde,
es ſeien nun die Beweggründe äußerliche, oder moraliſche. Fremd
iſt dagegen dem Völkerrecht eine legislative von höherer Gewalt
ausgehende Geſtaltung, 1 da die Staaten in ihrer Unabhängigkeit
keiner gemeinſamen irdiſchen Obrigkeit unterworfen ſind. Es iſt das
freieſte Recht welches exiſtirt, ſo wie es auch in der Anwendung
einer organiſchen Richtergewalt mangelt. Aber ſein Organ und Re-
gulator iſt die öffentliche Meinung und das letzte Gericht iſt die
Geſchichte, welche als Dike das Recht beſtätigt und als Nemeſis
das Unrecht ahndet. Seine Sanction iſt die Weltordnung, welche,
indem ſie den Staat ſchuf, dennoch nicht die menſchliche Freiheit
in Einzelſtaaten gebannt und damit abgeſchloſſen, ſondern dem Men-
ſchengeſchlecht den ganzen Erdball erſchloſſen hat; ſeine Beſtimmung:
der allſeitigen Entwickelung des Menſchengeſchlechts in dem Ver-
kehr der Nationen und Staaten eine ſichere Baſis zu geben, wozu
jeder Einzelſtaat nur Ein Hebel iſt, ohne daß er ſich deshalb von
dem großen Ganzen losſagen darf. 2

Zufällige Garantie des Völkerrechts: das Gleichgewicht der Staaten.

3. Ausgeſetzt der Ebbe und Fluth der menſchlichen Leidenſchaf-
ten ſowohl Einzelner wie ganzer Nationen, vorzüglich dem Reize der
Macht, über Andere zu herrſchen oder ſie ſich dienſtbar zu machen,
iſt das Völkerrecht, ſelbſt wo ſich ein ſolches im freien Verkehr ge-
bildet hat, ſteten Gefahren und Verletzungen blos geſtellt. Zu ſei-

1 Mehrere, beſonders Britiſche Rechtsgelehrte, z. B. Rutherforth, Institutes
of nat. law. II.
5, leugnen deshalb dem äußeren Staatenrecht jeden poſi-
tiven Charakter ab. Sie ſahen nicht, daß das Recht überall auch in den
Staaten ſelbſt, wenigſtens zum größten Theil, ohne den Einfluß einer hö-
heren Gewalt entſtanden und befeſtigt war, jenes ius non scriptum, quod
consensus fecit.
Richtiger hat Mr. Auſtin (Province of iurispr. de-
term. Lond.
1832) die Sache durchſchaut.
2 Dieſe großartigere Anſicht findet ſich bereits in des Spaniers Franz Sua-
rez († 1617) Werk de legib. et Deo legisl. II, 19, 4. Vgl. v. Omp-
teda Literatur I, 187.
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[3/0027] §. 3. Einleitung. lichen Nutzen in ſich; es ſtößt das Unſittliche allmählig von ſich aus und fordert ein in dieſen Grenzen gehaltenes Handeln. In der That beruht es daher auf einem allſeitigen ausdrücklichen oder doch mit Gewißheit vorauszuſetzenden Einverſtändniß (consensus), auf der Ueberzeugung, daß jeder Theil unter gleichen Umſtänden die- ſelbe Nöthigung ſo und nicht anders zu handeln empfinden werde, es ſeien nun die Beweggründe äußerliche, oder moraliſche. Fremd iſt dagegen dem Völkerrecht eine legislative von höherer Gewalt ausgehende Geſtaltung, 1 da die Staaten in ihrer Unabhängigkeit keiner gemeinſamen irdiſchen Obrigkeit unterworfen ſind. Es iſt das freieſte Recht welches exiſtirt, ſo wie es auch in der Anwendung einer organiſchen Richtergewalt mangelt. Aber ſein Organ und Re- gulator iſt die öffentliche Meinung und das letzte Gericht iſt die Geſchichte, welche als Dike das Recht beſtätigt und als Nemeſis das Unrecht ahndet. Seine Sanction iſt die Weltordnung, welche, indem ſie den Staat ſchuf, dennoch nicht die menſchliche Freiheit in Einzelſtaaten gebannt und damit abgeſchloſſen, ſondern dem Men- ſchengeſchlecht den ganzen Erdball erſchloſſen hat; ſeine Beſtimmung: der allſeitigen Entwickelung des Menſchengeſchlechts in dem Ver- kehr der Nationen und Staaten eine ſichere Baſis zu geben, wozu jeder Einzelſtaat nur Ein Hebel iſt, ohne daß er ſich deshalb von dem großen Ganzen losſagen darf. 2 Zufällige Garantie des Völkerrechts: das Gleichgewicht der Staaten. 3. Ausgeſetzt der Ebbe und Fluth der menſchlichen Leidenſchaf- ten ſowohl Einzelner wie ganzer Nationen, vorzüglich dem Reize der Macht, über Andere zu herrſchen oder ſie ſich dienſtbar zu machen, iſt das Völkerrecht, ſelbſt wo ſich ein ſolches im freien Verkehr ge- bildet hat, ſteten Gefahren und Verletzungen blos geſtellt. Zu ſei- 1 Mehrere, beſonders Britiſche Rechtsgelehrte, z. B. Rutherforth, Institutes of nat. law. II. 5, leugnen deshalb dem äußeren Staatenrecht jeden poſi- tiven Charakter ab. Sie ſahen nicht, daß das Recht überall auch in den Staaten ſelbſt, wenigſtens zum größten Theil, ohne den Einfluß einer hö- heren Gewalt entſtanden und befeſtigt war, jenes ius non scriptum, quod consensus fecit. Richtiger hat Mr. Auſtin (Province of iurispr. de- term. Lond. 1832) die Sache durchſchaut. 2 Dieſe großartigere Anſicht findet ſich bereits in des Spaniers Franz Sua- rez († 1617) Werk de legib. et Deo legisl. II, 19, 4. Vgl. v. Omp- teda Literatur I, 187. 1*

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Zitationshilfe: Heffter, August Wilhelm: Das Europäische Völkerrecht der Gegenwart. Berlin, 1844, S. 3. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heffter_voelkerrecht_1844/27>, abgerufen am 29.03.2024.