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Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 3. Hamburg, 1830.

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schon etwas in jenem Alter, wo die Zeit unsere
Dienstjahre mit fatalen Chevets auf die Stirne
anzeichnet, jedoch dafür war sie auch desto kor¬
pulenter, und was sie an Jugend eingebüßt, das
hatte sie an Gewicht gewonnen. Dazu trug ihr
Gesicht noch immer die Spuren großer Schön¬
heit, und wie auf alten Töpfen stand darauf
geschrieben: "lieben und geliebt zu werden, ist
das größte Glück auf Erden." Was ihr aber
den köstlichsten Reiz verlieh, das war die Frisur,
die gekräuselten Locken, kreideweiß gepudert, mit
Pommade reichlich gedüngt, und idyllisch mit
weißen Glockenblumen durchschlungen. Ich be¬
trachtete diese Frau mit derselben Aufmerksam¬
keit, wie irgend ein Antiquar seine ausgegrabenen
Marmortorsos betrachtet, ich konnte an jener
lebenden Menschenruine noch viel mehr studieren,
ich konnte die Spuren aller Civilisationen Ita¬
liens an ihr nachweisen, der etruskischen, römi¬
schen, gothischen, lombardischen, bis herab auf

ſchon etwas in jenem Alter, wo die Zeit unſere
Dienſtjahre mit fatalen Chevets auf die Stirne
anzeichnet, jedoch dafuͤr war ſie auch deſto kor¬
pulenter, und was ſie an Jugend eingebuͤßt, das
hatte ſie an Gewicht gewonnen. Dazu trug ihr
Geſicht noch immer die Spuren großer Schoͤn¬
heit, und wie auf alten Toͤpfen ſtand darauf
geſchrieben: “lieben und geliebt zu werden, iſt
das groͤßte Gluͤck auf Erden.„ Was ihr aber
den koͤſtlichſten Reiz verlieh, das war die Friſur,
die gekraͤuſelten Locken, kreideweiß gepudert, mit
Pommade reichlich geduͤngt, und idylliſch mit
weißen Glockenblumen durchſchlungen. Ich be¬
trachtete dieſe Frau mit derſelben Aufmerkſam¬
keit, wie irgend ein Antiquar ſeine ausgegrabenen
Marmortorſos betrachtet, ich konnte an jener
lebenden Menſchenruine noch viel mehr ſtudieren,
ich konnte die Spuren aller Civiliſationen Ita¬
liens an ihr nachweiſen, der etruskiſchen, roͤmi¬
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[98/0106] ſchon etwas in jenem Alter, wo die Zeit unſere Dienſtjahre mit fatalen Chevets auf die Stirne anzeichnet, jedoch dafuͤr war ſie auch deſto kor¬ pulenter, und was ſie an Jugend eingebuͤßt, das hatte ſie an Gewicht gewonnen. Dazu trug ihr Geſicht noch immer die Spuren großer Schoͤn¬ heit, und wie auf alten Toͤpfen ſtand darauf geſchrieben: “lieben und geliebt zu werden, iſt das groͤßte Gluͤck auf Erden.„ Was ihr aber den koͤſtlichſten Reiz verlieh, das war die Friſur, die gekraͤuſelten Locken, kreideweiß gepudert, mit Pommade reichlich geduͤngt, und idylliſch mit weißen Glockenblumen durchſchlungen. Ich be¬ trachtete dieſe Frau mit derſelben Aufmerkſam¬ keit, wie irgend ein Antiquar ſeine ausgegrabenen Marmortorſos betrachtet, ich konnte an jener lebenden Menſchenruine noch viel mehr ſtudieren, ich konnte die Spuren aller Civiliſationen Ita¬ liens an ihr nachweiſen, der etruskiſchen, roͤmi¬ ſchen, gothiſchen, lombardiſchen, bis herab auf

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Zitationshilfe: Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 3. Hamburg, 1830, S. 98. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder03_1830/106>, abgerufen am 29.03.2024.