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Heine, Heinrich: Reisebilder. Nachträge. Hamburg, 1831.

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phen hin und stellt ihn an eine Ecke von Cheap¬
side, er wird hier mehr lernen, als aus allen Bü¬
chern der letzten leipziger Messe; und wie die Men¬
schenwogen ihn umrauschen, so wird auch ein
Meer von neuen Gedanken vor ihm aufsteigen,
der ewige Geist, der darüber schwebt, wird ihn
anwehen, die verborgensten Geheimnisse der gesell¬
schaftlichen Ordnung werden sich ihm plötzlich offen¬
baren, er wird den Pulsschlag der Welt hörbar
vernehmen und sichtbar sehen -- denn wenn Lon¬
don die rechte Hand der Welt ist, die thätige,
mächtige rechte Hand, so ist jene Straße, die
von der Börse nach Downingstreet führt, als die
Pulsader der Welt zu betrachten.

Aber schickt keinen Poeten nach London! Die¬
ser baare Ernst aller Dinge, diese kolossale Ein¬
förmigkeit, diese maschinenhafte Bewegung, diese
Verdrießlichkeit der Freude selbst, dieses übertrie¬
bene London erdrückt die Phantasie und zerreißt
das Herz. Und wolltet Ihr gar einen deutschen

phen hin und ſtellt ihn an eine Ecke von Cheap¬
ſide, er wird hier mehr lernen, als aus allen Buͤ¬
chern der letzten leipziger Meſſe; und wie die Men¬
ſchenwogen ihn umrauſchen, ſo wird auch ein
Meer von neuen Gedanken vor ihm aufſteigen,
der ewige Geiſt, der daruͤber ſchwebt, wird ihn
anwehen, die verborgenſten Geheimniſſe der geſell¬
ſchaftlichen Ordnung werden ſich ihm ploͤtzlich offen¬
baren, er wird den Pulsſchlag der Welt hoͤrbar
vernehmen und ſichtbar ſehen — denn wenn Lon¬
don die rechte Hand der Welt iſt, die thaͤtige,
maͤchtige rechte Hand, ſo iſt jene Straße, die
von der Boͤrſe nach Downingſtreet fuͤhrt, als die
Pulsader der Welt zu betrachten.

Aber ſchickt keinen Poeten nach London! Die¬
ſer baare Ernſt aller Dinge, dieſe koloſſale Ein¬
foͤrmigkeit, dieſe maſchinenhafte Bewegung, dieſe
Verdrießlichkeit der Freude ſelbſt, dieſes uͤbertrie¬
bene London erdruͤckt die Phantaſie und zerreißt
das Herz. Und wolltet Ihr gar einen deutſchen

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[157/0171] phen hin und ſtellt ihn an eine Ecke von Cheap¬ ſide, er wird hier mehr lernen, als aus allen Buͤ¬ chern der letzten leipziger Meſſe; und wie die Men¬ ſchenwogen ihn umrauſchen, ſo wird auch ein Meer von neuen Gedanken vor ihm aufſteigen, der ewige Geiſt, der daruͤber ſchwebt, wird ihn anwehen, die verborgenſten Geheimniſſe der geſell¬ ſchaftlichen Ordnung werden ſich ihm ploͤtzlich offen¬ baren, er wird den Pulsſchlag der Welt hoͤrbar vernehmen und ſichtbar ſehen — denn wenn Lon¬ don die rechte Hand der Welt iſt, die thaͤtige, maͤchtige rechte Hand, ſo iſt jene Straße, die von der Boͤrſe nach Downingſtreet fuͤhrt, als die Pulsader der Welt zu betrachten. Aber ſchickt keinen Poeten nach London! Die¬ ſer baare Ernſt aller Dinge, dieſe koloſſale Ein¬ foͤrmigkeit, dieſe maſchinenhafte Bewegung, dieſe Verdrießlichkeit der Freude ſelbſt, dieſes uͤbertrie¬ bene London erdruͤckt die Phantaſie und zerreißt das Herz. Und wolltet Ihr gar einen deutſchen

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Zitationshilfe: Heine, Heinrich: Reisebilder. Nachträge. Hamburg, 1831, S. 157. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder04_1831/171>, abgerufen am 28.03.2024.