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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824.

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Vorauszusetzendes, und bis jetzt Ausgelassenes, sich be-
zieht
; und dass man die Auslassung durch eine Ergän-
zung verbessern muss. Erst müssen gewisse objective
Prädicate herbeygeschafft werden; diese aber dürfen nicht
von der Art seyn, dass sie für sich allein bestünden, und
uns am Ende in die beschämende Nothwendigkeit setz-
ten, das Darum-Wissen wie ein Fremdes nur gerade
daranfügen zu müssen. Sondern aus der objectiven
Grundlage muss jenes wunderbare, in sich zurücklaufende
Wissen von selbst hervorkommen; und zwar dergestalt,
dass vor diesem Wissen sich das Objective gleichsam
zurückziehe, damit das Ich nicht Sich als irgend ein be-
stimmtes Anderes, sondern als Sich selbst antreffen möge.

Diese vorläufigen Vermuthungen werden wir nun ge-
nauer auszuführen haben.

Anmerkung.

Es wird erlaubt, und beynahe nothwendig seyn, dass
ich hier meinen Vortrag unterbreche. Denn der Leser
muss hier anhalten; er muss sich das Vorgehende voll-
kommen überlegen und einprägen; sonst kann er nicht
Einen Schritt weiter gehen. -- Dass ich ihn bisher nicht
zum Lichte, sondern vielmehr in die dunkelste Nacht ge-
führt habe, weiss ich sehr wohl. Das musste gesche-
hen; die Natur der Sache bringt es mit sich; und für
Denjenigen, der hier ungeduldig wird, rede ich kein Wort
weiter. Wohl aber könnte auch der Geduldigste ermü-
den, und sich in einen Zustand versetzt fühlen, der eine
Art von Krankheit ist; ich kenne diesen Zustand aus Er-
fahrung, und weiss, wie schwer es ist, ihn zu ertragen,
wenn man nichts destoweniger in der Zeit fortleben und
forthandeln soll. Daher werde ich auf die dunkle Stelle
schon jetzt ein Licht fallen lassen, das von Untersuchun-
gen ausgeht, die erst viel später an die Reihe kommen
können.

Die Frage: wer bin ich? ist für den gewöhnlichen
Menschen in jedem Augenblick auf individuelle Weise

G 2

Vorauszusetzendes, und bis jetzt Ausgelassenes, sich be-
zieht
; und daſs man die Auslassung durch eine Ergän-
zung verbessern muſs. Erst müssen gewisse objective
Prädicate herbeygeschafft werden; diese aber dürfen nicht
von der Art seyn, daſs sie für sich allein bestünden, und
uns am Ende in die beschämende Nothwendigkeit setz-
ten, das Darum-Wissen wie ein Fremdes nur gerade
daranfügen zu müssen. Sondern aus der objectiven
Grundlage muſs jenes wunderbare, in sich zurücklaufende
Wissen von selbst hervorkommen; und zwar dergestalt,
daſs vor diesem Wissen sich das Objective gleichsam
zurückziehe, damit das Ich nicht Sich als irgend ein be-
stimmtes Anderes, sondern als Sich selbst antreffen möge.

Diese vorläufigen Vermuthungen werden wir nun ge-
nauer auszuführen haben.

Anmerkung.

Es wird erlaubt, und beynahe nothwendig seyn, daſs
ich hier meinen Vortrag unterbreche. Denn der Leser
muſs hier anhalten; er muſs sich das Vorgehende voll-
kommen überlegen und einprägen; sonst kann er nicht
Einen Schritt weiter gehen. — Daſs ich ihn bisher nicht
zum Lichte, sondern vielmehr in die dunkelste Nacht ge-
führt habe, weiſs ich sehr wohl. Das muſste gesche-
hen; die Natur der Sache bringt es mit sich; und für
Denjenigen, der hier ungeduldig wird, rede ich kein Wort
weiter. Wohl aber könnte auch der Geduldigste ermü-
den, und sich in einen Zustand versetzt fühlen, der eine
Art von Krankheit ist; ich kenne diesen Zustand aus Er-
fahrung, und weiſs, wie schwer es ist, ihn zu ertragen,
wenn man nichts destoweniger in der Zeit fortleben und
forthandeln soll. Daher werde ich auf die dunkle Stelle
schon jetzt ein Licht fallen lassen, das von Untersuchun-
gen ausgeht, die erst viel später an die Reihe kommen
können.

Die Frage: wer bin ich? ist für den gewöhnlichen
Menschen in jedem Augenblick auf individuelle Weise

G 2
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[99/0119] Vorauszusetzendes, und bis jetzt Ausgelassenes, sich be- zieht; und daſs man die Auslassung durch eine Ergän- zung verbessern muſs. Erst müssen gewisse objective Prädicate herbeygeschafft werden; diese aber dürfen nicht von der Art seyn, daſs sie für sich allein bestünden, und uns am Ende in die beschämende Nothwendigkeit setz- ten, das Darum-Wissen wie ein Fremdes nur gerade daranfügen zu müssen. Sondern aus der objectiven Grundlage muſs jenes wunderbare, in sich zurücklaufende Wissen von selbst hervorkommen; und zwar dergestalt, daſs vor diesem Wissen sich das Objective gleichsam zurückziehe, damit das Ich nicht Sich als irgend ein be- stimmtes Anderes, sondern als Sich selbst antreffen möge. Diese vorläufigen Vermuthungen werden wir nun ge- nauer auszuführen haben. Anmerkung. Es wird erlaubt, und beynahe nothwendig seyn, daſs ich hier meinen Vortrag unterbreche. Denn der Leser muſs hier anhalten; er muſs sich das Vorgehende voll- kommen überlegen und einprägen; sonst kann er nicht Einen Schritt weiter gehen. — Daſs ich ihn bisher nicht zum Lichte, sondern vielmehr in die dunkelste Nacht ge- führt habe, weiſs ich sehr wohl. Das muſste gesche- hen; die Natur der Sache bringt es mit sich; und für Denjenigen, der hier ungeduldig wird, rede ich kein Wort weiter. Wohl aber könnte auch der Geduldigste ermü- den, und sich in einen Zustand versetzt fühlen, der eine Art von Krankheit ist; ich kenne diesen Zustand aus Er- fahrung, und weiſs, wie schwer es ist, ihn zu ertragen, wenn man nichts destoweniger in der Zeit fortleben und forthandeln soll. Daher werde ich auf die dunkle Stelle schon jetzt ein Licht fallen lassen, das von Untersuchun- gen ausgeht, die erst viel später an die Reihe kommen können. Die Frage: wer bin ich? ist für den gewöhnlichen Menschen in jedem Augenblick auf individuelle Weise G 2

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 99. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/119>, abgerufen am 19.03.2024.