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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824.

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Bild, soll geschwächt oder gar aufgehoben werden; und
hierin soll dasjenige bestehen, was mehrere Vorstellungen
vermöge ihres Gegensatzes untereinander bewirken.

Aber eine Thätigkeit, welche fortdauert, während ihr
Effect, den sie vermöge ihrer Eigenthümlichkeit hervor-
bringen würde, durch etwas Fremdes zurückgehalten wird,
eine solche kann man nur mit dem Namen eines Stre-
bens
bezeichnen.

Aus Vorstellungen wird demnach ein Streben vor-
zustellen
, wenn entgegengesetzte Vorstellungen in ei-
nem und demselben Subject, das zum Selbstbewusstseyn
gelangen soll, vereinigt sind.

§. 37.

Den eben gefundenen Gedanken können wir sogleich
mit der Erfahrung vergleichen. Diese lehrt, dass unsre
Vorstellungen sich verdunkeln, schwinden, wiederkehren.
Ueber den Zustand, in welchem sie, so fern sie aus dem
Bewusstseyn verschwunden sind, sich befinden mögen,
kann keine Erfahrung belehren, denn Erfahrung haben
wir nur, so fern wir wirklich vorstellen; und die eignen
Vorstellungen in ihrem Schwinden beobachten zu wollen,
wäre gerade so viel, als sein eignes Einschlafen wahrneh-
men zu wollen. Wohin die Erfahrung nicht reicht, das
lässt sich gleichwohl sehr häufig durch Speculation errei-
chen: und wir haben so eben gesehn, dass unsre, aus
dem Bewusstseyn zurückweichenden Vorstellungen, sich
in ein Streben vorzustellen verwandeln; und dass sie als
ein solches Streben unvermindert fortdauern; daher auch
ihr Vorgestelltes wiederkehren muss, sobald die Hinder-
nisse, von denen sie gedrängt wurden, überwunden sind.

So wenig nun die Erfahrung diesen Aufschluss un-
mittelbar geben konnte, so brauchbar ist derselbe zur Er-
klärung der Phänomene. Auf zwey der allerwichtigsten
psychologischen Gegenstände, das Gedächtniss und den
Willen, fällt hier ein unerwartetes Licht. Dass beyde
sich auf das Vorstellen beziehen, ist schon im §. 12. vor-
läufig bemerkt worden. Dass sie allein aus dem Vorstel-

Bild, soll geschwächt oder gar aufgehoben werden; und
hierin soll dasjenige bestehen, was mehrere Vorstellungen
vermöge ihres Gegensatzes untereinander bewirken.

Aber eine Thätigkeit, welche fortdauert, während ihr
Effect, den sie vermöge ihrer Eigenthümlichkeit hervor-
bringen würde, durch etwas Fremdes zurückgehalten wird,
eine solche kann man nur mit dem Namen eines Stre-
bens
bezeichnen.

Aus Vorstellungen wird demnach ein Streben vor-
zustellen
, wenn entgegengesetzte Vorstellungen in ei-
nem und demselben Subject, das zum Selbstbewuſstseyn
gelangen soll, vereinigt sind.

§. 37.

Den eben gefundenen Gedanken können wir sogleich
mit der Erfahrung vergleichen. Diese lehrt, daſs unsre
Vorstellungen sich verdunkeln, schwinden, wiederkehren.
Ueber den Zustand, in welchem sie, so fern sie aus dem
Bewuſstseyn verschwunden sind, sich befinden mögen,
kann keine Erfahrung belehren, denn Erfahrung haben
wir nur, so fern wir wirklich vorstellen; und die eignen
Vorstellungen in ihrem Schwinden beobachten zu wollen,
wäre gerade so viel, als sein eignes Einschlafen wahrneh-
men zu wollen. Wohin die Erfahrung nicht reicht, das
läſst sich gleichwohl sehr häufig durch Speculation errei-
chen: und wir haben so eben gesehn, daſs unsre, aus
dem Bewuſstseyn zurückweichenden Vorstellungen, sich
in ein Streben vorzustellen verwandeln; und daſs sie als
ein solches Streben unvermindert fortdauern; daher auch
ihr Vorgestelltes wiederkehren muſs, sobald die Hinder-
nisse, von denen sie gedrängt wurden, überwunden sind.

So wenig nun die Erfahrung diesen Aufschluſs un-
mittelbar geben konnte, so brauchbar ist derselbe zur Er-
klärung der Phänomene. Auf zwey der allerwichtigsten
psychologischen Gegenstände, das Gedächtniſs und den
Willen, fällt hier ein unerwartetes Licht. Daſs beyde
sich auf das Vorstellen beziehen, ist schon im §. 12. vor-
läufig bemerkt worden. Daſs sie allein aus dem Vorstel-

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[148/0168] Bild, soll geschwächt oder gar aufgehoben werden; und hierin soll dasjenige bestehen, was mehrere Vorstellungen vermöge ihres Gegensatzes untereinander bewirken. Aber eine Thätigkeit, welche fortdauert, während ihr Effect, den sie vermöge ihrer Eigenthümlichkeit hervor- bringen würde, durch etwas Fremdes zurückgehalten wird, eine solche kann man nur mit dem Namen eines Stre- bens bezeichnen. Aus Vorstellungen wird demnach ein Streben vor- zustellen, wenn entgegengesetzte Vorstellungen in ei- nem und demselben Subject, das zum Selbstbewuſstseyn gelangen soll, vereinigt sind. §. 37. Den eben gefundenen Gedanken können wir sogleich mit der Erfahrung vergleichen. Diese lehrt, daſs unsre Vorstellungen sich verdunkeln, schwinden, wiederkehren. Ueber den Zustand, in welchem sie, so fern sie aus dem Bewuſstseyn verschwunden sind, sich befinden mögen, kann keine Erfahrung belehren, denn Erfahrung haben wir nur, so fern wir wirklich vorstellen; und die eignen Vorstellungen in ihrem Schwinden beobachten zu wollen, wäre gerade so viel, als sein eignes Einschlafen wahrneh- men zu wollen. Wohin die Erfahrung nicht reicht, das läſst sich gleichwohl sehr häufig durch Speculation errei- chen: und wir haben so eben gesehn, daſs unsre, aus dem Bewuſstseyn zurückweichenden Vorstellungen, sich in ein Streben vorzustellen verwandeln; und daſs sie als ein solches Streben unvermindert fortdauern; daher auch ihr Vorgestelltes wiederkehren muſs, sobald die Hinder- nisse, von denen sie gedrängt wurden, überwunden sind. So wenig nun die Erfahrung diesen Aufschluſs un- mittelbar geben konnte, so brauchbar ist derselbe zur Er- klärung der Phänomene. Auf zwey der allerwichtigsten psychologischen Gegenstände, das Gedächtniſs und den Willen, fällt hier ein unerwartetes Licht. Daſs beyde sich auf das Vorstellen beziehen, ist schon im §. 12. vor- läufig bemerkt worden. Daſs sie allein aus dem Vorstel-

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 148. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/168>, abgerufen am 18.04.2024.